Die 94-jährige Margrit Stalder wohnt seit 67 Jahren in der gleichen Wohnung in der Stadt Zürich und bestreitet ihren Haushalt allein. Im Herbst 2021 geriet die Rentnerin plötzlich ins Visier der Justiz – wegen zweier zu früh deponierter Bündel mit Zeitungspapier.
Die Zürcher Strafverfolgungsbehörden bissen sich fast zwei Jahre an ihrem Fall fest – bis das Bezirksgericht dem Treiben Einhalt gebot. Dem K-Tipp liegt die Korrespondenz mit dem Justizapparat vor.
25. Oktober 2021
Die damals 92-jährige Margrit Stalder stellt zwei etwa 6 Zentimeter dünne Bündel Altpapier auf die Strasse vor ihrer Wohnung. Zuvor hatte sie den Entsorgungskalender studiert. Dabei unterlief ihr ein Fehler: Am nächsten Tag sammelten die städtischen Mitarbeiter nicht Papier ein, sondern Karton. «Ich war einige Tage krank und wohl noch etwas durcheinander», sagt Stalder im Rückblick.
26. Oktober 2021
Die Stadtpolizei Zürich stellt Margrit Stalder eine «Übertretungsanzeige» zu. Anhand einer adressierten «Coop-Zeitung» in ihrem Altpapierbündel machte ein Polizist die Rentnerin als Verursacherin ausfindig.
31. Oktober 2021
Margrit Stalders Sohn Thomas bittet die Behörden schriftlich um Nachsehen. Seine Mutter habe sich lediglich in der Woche geirrt. Ohne Erfolg: Die Stadtpolizei teilt ihm mit, die Anzeige werde weitergeleitet. Danach hören Stalders über neun Monate nichts mehr.
23. August 2022
In Margrit Stalders Briefkasten liegt ein Strafbefehl des Statthalteramts des Bezirks Zürich: Ihr wird eine Busse von 120 Franken aufgebrummt, zudem muss sie Gebühren von 150 Franken bezahlen. Sie habe «aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit verbotenerweise Wertstoffe auf öffentlichem Grund» deponiert. Stalder zahlt die 270 Franken – andernfalls droht ihr laut Behörden eine «nicht aufschiebbare Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen», also eine Gefängnisstrafe.
25. August 2022
Sohn Thomas Stalder äussert in einem Brief an das Statthalteramt sein Unverständnis über das Vorgehen der Behörden, schreibt aber auch, dass seine Mutter keine Einsprache gegen die Busse mache.
6. September 2022
Das Statthalteramt schreibt Margrit Stalder, ihr Sohn sei nicht zu einer Einsprache berechtigt. Sie müsse innert fünf Tagen eine Vollmacht nachliefern. Sonst gehe der Fall zur Überprüfung an das Bezirksgericht. Stalder lässt die Frist verstreichen.
29. November 2022
Sohn Thomas schaltet den städtischen Ombudsmann ein. Dieser ersucht das Bezirksgericht um die Sistierung des Falls. Das Gericht kommt dem Antrag nach.
17. März 2023
Das Statthalteramt will von einer Sistierung nichts wissen. Es verlangt, dass die Einsprache – die gar keine war – vom Gericht als ungültig erklärt wird. Die «nachträglich entstandenen Gebühren in der Höhe von 100 Franken» und die Verfahrenskosten seien Margrit Stalder aufzuerlegen.
1. Juni 2023
Das Bezirksgericht Zürich entscheidet, dass Margrit Stalder «keine Einsprache erhoben» habe. Die nachträglich entstandenen Gebühren muss das Statthalteramt übernehmen.
3. August 2023
Das Statthalteramt schickt Margrit Stalder das «Ergebnis der gerichtlichen Beurteilung»: Auf die Einsprache werde nicht eingetreten, Stalder habe die Busse zu bezahlen – was sie knapp ein Jahr vorher bereits getan hat.
Für Margrit Stalder endet damit ein Streit mit der Zürcher Justiz, der fast zwei Jahre gedauert hat. «Diese Zeit war für mich sehr belastend», sagt die Rentnerin, «auch wenn mein Sohn die meiste Korrespondenz mit den Behörden übernahm.»
Laut Karl Kümin, Leiter Recht beim K-Tipp, können die Strafbehörden bei Bagatellen von einer Strafe absehen – insbesondere dann, wenn niemand geschädigt wurde und das Verschulden gering ist. Die Stadtpolizei sagt gegenüber dem K-Tipp, dass es nicht ihre Aufgabe sei zu beurteilen, was ein Bagetelldelikt ist. Ob auf eine Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet wird, könne nur von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten entschieden werden.
Das Statthalteramt Zürich sagt auf Anfrage, das falsche Bereitstellen von Abfall sowie Altpapier und Karton würden 95 Prozent der Verstösse gegen das Abfallgesetz ausmachen. Deshalb verzichte es auch in Bagatellfällen nicht auf eine Strafverfolgung. Es spreche Bussen in der Höhe von 80 bis 150 Franken aus.
Strafbefehl: Einsprachefrist nicht verlängerbar
In der Schweiz werden 95 Prozent aller Strafverfahren per Strafbefehl erledigt. Das bedeutet: Die Staatsanwaltschaften bestrafen die Beschuldigten per schriftlicher Verfügung mit Bussen, Geldstrafen oder Haft bis zu 180 Tagen. In den allermeisten Fällen werden die Beschuldigten vorher nicht angehört. Die Staatsanwälte entscheiden also aufgrund eines Polizeirapports.
Wichtig: Wer mit einem Strafbefehl nicht einverstanden ist, muss unbedingt innert 10 Tagen Einsprache erheben. Die Frist beginnt am Tag nach dem Empfang der Verfügung und gilt als eingehalten, wenn die Einsprache am 10. Tag der Staatsanwaltschaft oder der Post übergeben wird. Die Frist wird nicht erstreckt. Wenn sie verpasst wird, wird der Strafbefehl rechtskräftig, also zum vollstreckbaren Urteil.