Die neue Schweizer Prozessordnung ist von historischer Bedeutung – vergleichbar mit der Einführung des Zivilgesetzbuches vor rund 100 Jahren. Bisher legte jeder Kanton selber fest, nach welchen Regeln ein Gerichtsverfahren abläuft.
Neu sind für alle Zivilgerichte in der Schweiz die gleichen Spielregeln anwendbar. Kantonal geregelt sind nur noch die Organisation der Gerichtsbehörden und die Höhe der Verfahrenskosten. Die Vereinheitlichung der Prozessordnung bringt für die Parteien einen grossen Vorteil:
Sie müssen bei Klagen ausserhalb der eigenen Kantonsgrenzen nicht mehr mit unangenehmen Überraschungen rechnen. Das neue Gesetz bringt aber für die Rechtsuchenden klare Nachteile, besonders für Kläger mit kleinem oder mittlerem Budget.
Ohne Vorschuss kein Prozess
Stossend ist vor allem: Laut der neuen Zivilprozessordnung können alle Gerichte in der Schweiz die voraussichtlichen Gerichtskosten als Vorschuss von der klagenden Partei verlangen. Wer eine Klage einreicht, erhält eine kurze Frist, um die vom Gericht festgesetzten Kosten zu bezahlen, ansonsten wird auf die Klage nicht eingetreten.
Dabei geht es schnell um ein paar tausend Franken: Bei einem Streitwert von 20 000 Franken ist beim Bezirksgericht Zürich beispielsweise mit 3150 Franken Gerichtsgebühren zu rechnen. Und Zürich ist nicht der teuerste Kanton.
Karl Spühler, ehemaliger Bundesrichter und Professor für Zivilprozessrecht an der Universität Zürich, kritisiert: «In Zürich und vielen anderen Kantonen gab es diese Kautionspflicht bisher nicht. Die Höhe der Kaution ist beträchtlich.
Sie beträgt bei kleineren Streitwerten 15 bis 20 Prozent des eingeklagten Betrages.» Diese finanzielle Belastung ist laut Spühler enorm. Und wenn jemand einen Rechtsanwalt beiziehen wolle, müsse er diesem oft auch noch einen Vorschuss zahlen. Wem das nötige Geld fehlt, wird es in Zukunft also schwer haben, zu seinem Recht zu kommen.
Kläger tragen ein hohes Kostenrisiko
Kommt hinzu: Ist ein Kläger vor Gericht erfolgreich, erhält er die geleistete Kaution neu nicht mehr zurück. Im Urteil heisst es dann zwar wie bisher, dass die Gerichtskosten dem Beklagten auferlegt werden. Laut dem neuen Recht bezieht das Gericht seine Kosten aber vom Vorschuss des Klägers.
Der Kläger muss dann selbst schauen, wie er das Geld von der unterlegenen Partei erhält. Spühler: «Das ist sehr mühsam – oder so-gar unmöglich, wenn die unterlegene Partei nicht zahlen kann oder sogar den Konkurs eröffnet hat.»
Fazit: Ein Angestellter, der den ausstehenden Lohn einklagt, geht neu das Risiko ein, selbst bei Gutheissung der Klage die Prozesskosten bezahlen zu müssen. Kleiner Trost: Im Arbeitsrecht dürfen die Gerichte wie bisher bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken keine Gebühren verlangen. Aber die meisten Klagen wegen ungerechtfertigter fristloser Entlassung liegen über diesem Betrag.
Generell muss sich künftig jeder gut überlegen, ob er ein Verfahren gegen jemanden einleitet, der in Zahlungsschwierigkeiten steckt. Wird etwa ein Darlehen nicht zurückgezahlt, dürfte das Prozesskostenrisiko für den Kläger sehr gross sein.
Oder liefert beispielsweise ein Internetshop die vorausbezahlte Ware nicht, kann der Käufer zwar gerichtlich eine Rückerstattung des Kaufpreises verlangen. Ist der Onlineshop aber zahlungsunfähig, muss der Käufer die Gerichtskosten sowie seine eigenen Auslagen berappen und erhält, wenn er Pech hat, nicht einmal den Kaufpreis zurück.
Für Spühler ist das unhaltbar: «Diese Kostenregelungen begünstigen die Gerichtskasse beziehungsweise den Fiskus der Kantone und schaden den Interessen der kleineren und mittleren klagenden Parteien.»
Er befürchtet, dass viele Betroffene infolge dieser Gesetzesänderung auf die gerichtliche Geltendmachung ihrer Ansprüche verzichten werden: «Es handelt sich um eine eigentliche Erschwerung – wenn nicht gar Verhinderung – der Rechtsverfolgung.»
Kompliziertere und längere Verfahren
Dazu gehört auch, dass Prozessieren schwieriger wird. Wer seine Forderung ohne Anwalt durchbringen will, tappt viel leichter als früher in eine formale Falle. Vergisst jemand zum Beispiel bei seinen Ausführungen vor Gericht etwas, kann dies später kaum mehr in den Prozess eingebracht werden. Das führt faktisch zu einem Anwaltszwang.
Einige Verfahren werden künftig je nach Kanton auch länger dauern – und zwar gerade die, bei denen es um den Lohn geht: Konnte bisher ein Angestellter in Zürich nach einer ungerechtfertigten fristlosen Entlassung direkt ans Arbeitsgericht gelangen, um seinen Lohn einzuklagen, muss er neu sein Geld zuerst beim Friedensrichter einklagen.
Dieser ist in der Regel nicht rechtskundig, kostet aber schnell ein paar hundert Franken. Und verlängert das Verfahren um rund zwei bis drei Monate. Wer sich auf dieser Verfahrensstufe von einem Anwalt beraten lässt, muss für diese Kosten zudem – auch wenn er später vor Gericht gewinnt – selber aufkommen.
Das Fazit des St. Galler Anwalts und CVP-Ständerats Eugen David: «Eine unerschwingliche Justiz schafft sich selbst ab.» Bei dieser Gesetzgebung hätte nicht der Rechtsuchende im Zentrum gestanden, sondern die Entlastung der Behörden. Gerichte hätten den Zweck, Konflikte zwischen Privaten möglichst objektiv zu entscheiden.
David: «Je kürzer die Verfahren dauern, je einfacher und günstiger sie sind, umso besser kann dieser Zweck erfüllt werden.» Mit der neuen Zivilprozessordnung habe das Parlament dieses Ziel verpasst – sie gehe sogar ins Gegenteil.