Dutzende junger Leute turnen an Holzwänden wie die Affen. Mit Händen und Füssen arbeiten sie sich Zug um Zug an farbigen Griffen hoch. Dabei bringen sie ihre Glieder in akrobatische Stellungen: Mit den Armen weit über dem Kopf, die Füsse auf Ohrenhöhe ziehen und stossen sie sich nach oben. In den nächsten Minuten soll die Anfängergruppe es ihnen gleichtun.
Unter ihnen ist Christoph Stalder, der sich auf seine erste Lektion im Klettern freut: «Ich wollte schon lange damit beginnen», sagt er. Es ist Montagabend, Boulderhalle «Minimum» in Zürich. Kursleiter David Niedermann empfängt 12 Männer und Frauen zum Schnupperkurs im Bouldern, dem Klettern an Felsblöcken oder an künstlichen Kletterwänden – ohne Hilfsmittel wie Seil und Gurt. Dafür gehts auch nicht in schwindelnde Höhe. Die Kletterwände sind 4 bis 5 Meter hoch, und der Boden ist mit dicken, weichen Matten gepolstert. Ein Sturz ist daher kaum gefährlich.
Bouldern boomt. Im Internet sind bei Kletterportal.ch rund 50 Kletterhallen aufgelistet. Und es werden laufend mehr – nicht ohne Grund. Ausser Kletterfinken ist keine Ausrüstung nötig. Zudem kann man das ganze Jahr über und bei jedem Wetter Bouldern. Der Sport ist auch gesund. Kevin Hemund, Sportwissenschafter und verantwortlich für den Nachwuchs beim Schweizerischen Alpenclub, sagt: «Es trainiert den ganzen Körper und macht erst noch Spass. Für viele ist es eine Alternative zum Training im Fitnesscenter.» Ausserdem sei Bouldern für jeden machbar, auch für Menschen mit Höhenangst: «Man kann quer der Wand entlang klettern und muss nicht unbedingt in die Höhe», so Hemund.
Fürs Bouldern brauchts Kletterfinken aus hartem Gummi. Weil sie eng anliegen müssen, fühlt sich das alles andere als bequem an. Doch David Niedermann erklärt den Anfängern, das müsse so sein, «sonst habt ihr an der Wand zu wenig Halt».
Je schwieriger die Route, desto kleiner die Griffe
Nach einer kurzen Aufwärmrunde zeigt Niedermann den Schülern die Wand: Daran sind unzählige Kunststoffgriffe in verschiedenen Farben und Grössen befestigt. Die Farben bezeichnen die einzelnen Kletterrouten. Pro Route darf man nur die Griffe einer Farbe benutzen. Je schwieriger sie ist, umso weiter auseinander und kleiner sind die Griffe für Hände und Füsse.
Niedermann lässt Anfänger die Wand erst in Tritthöhe queren. Das fühlt sich ganz gut an: Die Zehen stehen stabil, die Finger tasten sich problemlos von Griff zu Griff.
Später dürfen die Kletterschüler nur noch die Griffe einer einzigen Farbe fassen. Jetzt sieht die Sache schon anders aus: Man muss sich richtig strecken, die Beine weit spreizen. Wenn man sich mit den Fingern nur an einem kleinen Griff festhalten kann und hochziehen muss, geht das ganz schön in die Arme. Auch die Beine müssen kräftig arbeiten. Die Schüler kommen langsam ins Schwitzen. Die meisten spüren jetzt, wie stark sie die Unterarmmuskeln zum Klettern brauchen. Doch aufgeben kommt nicht in Frage.
Christoph Stalder will die blaue Route hochsteigen, die kniffligste. Doch nach einigen Zügen hängt er an der Wand, die Füsse baumeln in der Luft, der nächste blaue Griff ist zu weit weg. Er lässt sich auf die Matte plumpsen. Beim zweiten Versuch hilft Kursleiter Niedermann mit Tipps: «Rechten Fuss nach oben, noch weiter», sagt er. Stalder ächzt, kann sich mit dem rechten Zeh abstützen, greift mit der linken Hand nach rechts oben zum nächsten Griff. Geschafft!
Beim Bouldern sind nebst Kraft und Koordination auch Kreativität und Konzentration gefragt. Kevin Hemund: «Man muss Bewegungen planen und durchführen.» Dabei entwickle man ein gutes Gefühl für den eigenen Körper. Eine bestimmte Route zu meistern, nenne man beim Bouldern «ein Problem lösen». Und für ein Problem gebe es jeweils mehrere Lösungen. «Das fordert einen heraus.» Hemund weiss, wovon er spricht: Der 30-Jährige ist mehrfacher Schweizermeister im Bouldern.
Beim Bouldern ist man allerdings alleine unterwegs – im Gegensatz zu anderen Klettersportarten. Klettern zusammen mit anderen fördert den Zusammenhalt und das Vertrauen in ein Team (Gesundheitstipp 11/2010). Das nutzen Ärzte als Therapie bei Patienten mit psychischen Beschwerden. Sportarzt Walter O. Frey vom Institut Movemed an der Uniklinik Balgrist: «Vor allem bei Angstblockaden kann Klettern den Betroffenen helfen.»
Für Ingo Froböse, Sportwissenschafter an der Deutschen Sporthochschule Köln, schult Bouldern die Persönlichkeit. Denn wer einen Fehlgriff tut, fällt nur auf die weiche Matte. Froböse: «Scheitern ist nicht schlimm, bei einem Sturz passiert nichts, und ich kann den Fehler sofort korrigieren.» So lerne man Dinge, «von denen man gedacht hat, man schaffe sie nie».
Finger und Zehen regelmässig dehnen
Froböse empfiehlt zum Bouldern einen Ausgleichsport wie Velofahren, Schwimmen oder Joggen. Beim Klettern kämen Herz- und Kreislauf zu kurz. Ein weiterer Tipp: Weil Finger und Zehen besonders zum Einsatz kommen, sollte man sie regelmässig dehnen. Das beuge Entzündungen vor und verhindere überlastete Sehnen und Gelenke, so Froböse. Bouldern eigne sich für Menschen jeden Alters, die nicht an Gleichgewichtsproblemen oder entzündlichen Krankheiten der Gelenke leiden, sagt er.
Christoph Stalder hat der Schnupperabend gefallen. Er spüre die Muskeln am ganzen Körper, was ein gutes Gefühl sei. Stalder will auf jeden Fall wieder zum Bouldern.