Werbeanzeigen für Milch zeigen fast immer glückliche Kühe zusammen mit ihren Kälbern. So warb etwa Coop im Januar 2024 in der «Coop-Zeitung» mit der Schlagzeile: «Kalb bleibt mindestens 120 Tage auf dem (Demeter-)Geburtsbetrieb.»
Doch für über 95 Prozent aller Kälber sieht die Realität anders aus. Üblich ist folgende Praxis: Unmittelbar nach der Geburt wird das Kalb der Mutterkuh weggenommen, weil es sonst im Verlauf der Zeit rund einen Drittel der Milch trinken würde. Das Kalb darf also nie am Euter der Mutter saugen und auch keine Beziehung zu ihr aufbauen. Bereits nach wenigen Tagen muss es sich statt mit natürlicher Muttermilch mit industriell hergestelltem Milchpulver zufriedengeben.
Viele Kälber erkranken schwer
Die Trennung von Mutter und Kalb führt bei den Jungtieren zu Schmerzen und schwächt ihre Gesundheit. Gegenüber dem K-Tipp schildern Bauern, was passiert: Die Mutterkühe brüllen und rufen bis zu drei Tage lang nach ihrem Kalb, weil sie es vermissen und nicht ihr natürliches Verhalten zeigen können. Dazu gehört etwa das Ablecken des Kalbes mehrmals am Tag oder der Aufbau und das Ausleben der Mutter-Kalb-Bindung.
Aus diesem Mangel entwickeln Kälber Verhaltensstörungen und besaugen sich gegenseitig. Das führt gehäuft zu Nabelentzündungen. Laut Statistik des Bundes erkrankt jedes zweite Kalb so schwer, dass es mit Antibiotika behandelt werden muss.
Neben dem Mangel an Muttermilch und dem fehlenden Kontakt zur Mutter ist dies laut Experten darauf zurückzuführen, dass die Kälber bereits ab dem 21. Lebenstag von ihrem Geburtsbetrieb zu einem Mastbetrieb gebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt ist das Immunsystem der Kälber noch nicht fertig ausgebildet. Dennoch werden sie fremden Keimen ausgesetzt.
Der K-Tipp sprach den Verband der Milchproduzenten auf das Problem an. Dort wiegelt man ab: Jeder Milchproduzent habe ein ureigenes Interesse am Wohlergehen seiner Tiere. Daher könne man davon ausgehen, dass alles unternommen werde, damit es den Tieren gut gehe.
Anders schätzt die Situation die Milchbäuerin Evelyn Scheidegger aus Signau im Emmental BE ein. Sie ist Präsidentin des Vereins Cowpassion. Die Bäuerin sagt, sie habe es nicht mehr übers Herz gebracht, ihren 20 Kühen die Kälber wegzunehmen. Seit 2018 dürfen ihre Jungtiere mindestens vier Monate lang so viel Milch vom Euter ihrer Mütter trinken, wie sie wollen. Einzig die Milch, die das Kalb nicht trinkt, geht in den Verkauf.
Tierfreundliche Haltung auch bei Bio freiwillig
Die Kälber seien seither viel lebendiger und deutlich weniger anfällig für Durchfallerkrankungen, stellt die Bäuerin fest. Antibiotika müsse sie bei Kälbern und Kühen kaum mehr einsetzen. Wegen der Mutter-Kalb-Haltung verkauft Scheideggers Betrieb weniger Milch und hat finanzielle Einbussen: Rund ein Drittel der Einnahmen fallen weg. Vom Handel erhält die Bäuerin aber keinen besseren Preis für ihre Milch. Daher wenden erst gut 20 Betriebe in der Schweiz die tierfreundliche Milchproduktion an. Sie bieten Milch und Käse über eigene Kanäle an.
Erstaunlich: Keines der bekannten Tierwohllabels schreibt seinen Bauern vor, dass Milchkälber mit ihren Müttern aufwachsen müssen. Bio Suisse sagt, es sei in Bio-Betrieben «gängige Praxis, Kälber nach ihrer Geburt einige Tage bei der Mutter zu lassen». Die tierfreundliche Haltung ist aber auch bei Bio freiwillig. Strengere Richtlinien kämen zurzeit nicht infrage, weil die Fütterungsvorschriften vor kurzem verschärft worden seien.
Demeter bezeichnet die Mutter-Kalb-Haltung zwar als wünschenswert, vorgeschrieben sei sie aber nicht. Immerhin: Demeter-Betriebe müssen spätestens ab 2030 ihre Kälber vier Monate im Geburtsbetrieb behalten. Einige Betriebe würden die Mutter-Kalb-Haltung bereits heute freiwillig praktizieren, schreibt Demeter.
Unter dem Label «Milchgenuss mit Respekt» haben einige Demeter-Betriebe eine tierfreundliche Milchproduktion in abgeschwächter Form. Dabei sind die Kälber die ersten zehn Tage bei ihrer Mutter, danach bei einer Amme. Solche Milch ist nur in Bio-Läden erhältlich.
Bei Grossverteilern und Discountern gibt es keine Milch, die von Kühen mit Mutterhaltung stammt. Coop schreibt, man prüfe den Verkauf solcher Milch. Lidl sagt, man stehe mit Vertretern der Mutter-Kalb-Haltung in Kontakt.
Bund verweigert Unterstützung
Keine Hilfe erhält die tierfreundliche Milchproduktion bislang vom Bund. 2020 reichten Kleinbauern beim Bundesamt für Landwirtschaft ein Fördergesuch ein. Es ging um einen Betrag von 20'000 Franken. Das Amt lehnte das ab. Zum Vergleich: An die Vermarktung der konventionellen Milchproduktion zahlt der Bund jährlich 31 Millionen Franken.