Die Migros und der Molkereikonzern Emmi machten 2020 und 2021 grosse Versprechen, als sie den Nutri-Score auf ihren Produkten einführten. Die Migros gab an, sie werde sämtliche Eigenmarken damit kennzeichnen. Und Emmi erklärte, man wolle «Kunden eine wichtige Hilfe für eine ausgewogene Ernährung anbieten».
Der Nutri-Score bewertet Lebensmittel nach ihren Inhaltsstoffen. Er zeigt auf einer Skala von A bis E und von Grün bis Rot, wie gesund ein Lebensmittel ist. Je mehr Kalorien, Zucker, gesättigte Fettsäuren oder Salz, desto tiefer ist die Bewertung. Bisher führten sieben europäische Länder das Ampelsystem ein.
Vor kurzem gaben Emmi und die Migros bekannt, dass sie bei ihren Produkten den Nutri-Score künftig nicht mehr verwenden wollen. Damit setzt mit Nestlé in der Schweiz nur noch ein einziger grosser Lebensmittelhersteller auf eine klare Deklaration des Gesundheitswerts. Coop führte den Nutri-Score gar nie ein.
Die Migros begründete den Ausstieg aus dem Nutri-Score mit knappen Worten: Die Bewertungsfarben von Grün bis Rot seien zu wenig bekannt. Auch Emmi behauptete, das System bringe den Kunden keine Vorteile. Was weder Migros noch Emmi sagen: Die Verantwortlichen bei Nutri-Score, die Experten der französischen Behörde Santé publique France, verschärften Anfang 2024 die Bewertung für den Gehalt an Zucker, Süssstoffen und Salz. Bis Ende 2025 müssen die Lebensmittelhersteller die neuen Vorschriften umsetzen.
Die neuen Regeln betreffen 40 Prozent der Produkte. Bei vielen resultiert ein schlechterer Nutri-Score-Wert. Das gilt zum Beispiel für einen Verkaufsschlager von Emmi, den «Caffè Latte». Die französische Ernährungsspezialistin Pilar Galan hat berechnet, dass alle Sorten des kalten Emmi-Kaffees die grünen A- und B-Bewertungen verlieren werden, sofern die Rezeptur nicht verändert wird. Einige Getränkevarianten würden gar auf ein rotes E herabgestuft.
Die verschärften Vorgaben verschlechtern die Bewertung von Milch und Milchgetränken allgemein, aber auch von Produkten wie den veganen Joghurts der Migros-Marke V-Love – zum Beispiel von «V-Love Plant Based Creamium Choco»-Joghurt (von B auf C). Schlechter bewertet werden auch viele Süssgetränke. «Es ist sicher kein Zufall, dass die Migros und Emmi jetzt aussteigen», sagt Serge Hercberg, einer der Wissenschafter, welche den Nutri-Score entwickelt haben.
Emmi und die Migros bestreiten, dass die neuen Vorgaben für den Ausstieg ausschlaggebend waren: Der Nutri-Score sei zu wenig bekannt.
Das trifft aber nicht zu. Eine Studie der Berner Fachhochschule von 2022 ergab, dass in der Schweiz 69 Prozent der Bevölkerung den Nutri-Score kennen. Die Forscher kamen zum Schluss, dass der Bekanntheitsgrad noch steigen würde, wenn weitere Produkte gekennzeichnet wären.
Lobbyisten reden Nutri-Score schlecht
Die grosse Mehrheit von über 130 Studien zur Wirkung von Nutri-Score zeigten, dass das Bewertungssystem wissenschaftlich solid ist und zu gesünderem Konsum führt. Trotzdem erwecken Vertreter der Lebensmittelindustrie seit langem den Eindruck, dass Fachleute den Nutri-Score für fragwürdig hielten.
Dazu gab es zwar ebenfalls einige wissenschaftliche Studien – viele davon wurden aber von der Lebensmittelindustrie finanziert oder von Autoren verfasst, die ihr nahestehen. Damit wird die Glaubwürdigkeit des Nutri-Score in den Medien erfolgreich infrage gestellt. So zitierte etwa die NZZ Ende Mai eine Studie, die angeblich zeigt, dass der Nutri-Score unter Experten umstritten sei. Die Autoren der Studie arbeiten für die niederländische Milchlobby und für Vertreter der Zuckerindustrie.
Auch im Parlament in Bern bekämpfen Politiker den Nutri-Score. So empörte sich etwa der Aargauer SVP-Nationalrat und Bauer Alois Huber darüber, dass Apfelsaft wegen seines Zuckergehalts beim Nutri-Score schlecht abschneidet.
Einen anderen Weg als Emmi und die Migros geht Valora: Sie kennzeichnet ihre Eigenmarken in Avec-Läden und an Kiosken neu mit dem Nutri-Score.
So funktioniert der Nutri-Score
Mit dem Bewertungssystem Nutri-Score lassen sich Lebensmittel der selben Kategorie vergleichen – auf einer Skala von A bis E und von Grün bis Rot. Massgeblich sind die Nährstoffe im Produkt:
- Enthält es viele Ballaststoffe, Eiweiss und gewisse Öle, erhält es eine grüne Bewertung.
- Enthält es viel Fett, Salz oder Zucker, gibt es ein rotes E.
- Keine Aussage macht der Nutri-Score darüber, wie vitaminreich ein Produkt ist oder wie es hergestellt wird.
Tipp: Die K-Tipp-App Nutriscan+ hilft, den Verarbeitungsgrad eines Lebensmittels zu erkennen. Scannt man im Laden den Strichcode eines Produkts mit dem Handy, zeigt die App den Verarbeitungsgrad mit den Nutri-Score-Farben an. Sie gibt auch an, welche Zusatzstoffe ein Produkt enthält. Nutriscan+ ist gratis erhältlich im App-Store von Apple und im Play-Store für Android-Handys.