Leistenbruch: Kunststoff-Netze schrumpfen und wandern
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Gesundheitstipp 1/2000
01.01.2000
Chirurgie-Professor Schumpelick: «Ein unkalkulierbares Risiko für den Patienten»
Jedes Jahr pflanzen Ärzte bei Leistenbruch-Operationen weltweit eine Million Kunststoff-Netzchen ein. Jetzt zeigt sich: Die Fremdkörper machen zunehmend Probleme. Chirurgen müssen die Netze wieder entfernen.
Antonio Ligorio wollte eigentlich gar kein Kunststoffnetz im Bauch. Der 30-jährige Wirtschaftsstudent aus Reinach BL hatte sich gründlich informiert, bevor er seinen Leisten...
Chirurgie-Professor Schumpelick: «Ein unkalkulierbares Risiko für den Patienten»
Jedes Jahr pflanzen Ärzte bei Leistenbruch-Operationen weltweit eine Million Kunststoff-Netzchen ein. Jetzt zeigt sich: Die Fremdkörper machen zunehmend Probleme. Chirurgen müssen die Netze wieder entfernen.
Antonio Ligorio wollte eigentlich gar kein Kunststoffnetz im Bauch. Der 30-jährige Wirtschaftsstudent aus Reinach BL hatte sich gründlich informiert, bevor er seinen Leistenbruch operieren liess. Für ihn stand fest: «Ich wollte mir kein Netz einsetzen, sondern die Bruchstelle einfach zusammennähen lassen.»
Doch der Oberarzt am Basler Kantonsspital winkte ab: Das mache man heute nicht mehr so. «Er sagte, die Kunststoffnetze seien ein gewaltiger Fortschritt, es gebe überhaupt keine Probleme damit», erinnert sich Antonio Ligorio. Mit einem unguten Gefühl willigte der Student schliesslich ein.
Das ungute Gefühl bestätigte sich. Seit der Operation vor gut einem Jahr hat Antonio Ligorio ständig Schmerzen in der Leistengegend: «Das Netz schrumpfte und verrutschte. Es zieht und brennt und es hat harte Stellen im Bauch.» Weil die Narben vermutlich einen Nerv eingeklemmt haben, ermüde auch das Bein schnell. Er könne nicht einmal mehr rennen.
Rita Meier, 35 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, geht es ähnlich. Sie hat seit der Operation vor knapp drei Jahren ständige Schmerzen, das Netz spannt. «Man hatte mir gesagt, dies sei die beste Methode für mich», erzählt sie. «Ich habe dem Arzt geglaubt und mich darauf verlassen.»
Bei Rita Meier und Antonio Ligorio ist das eingetreten, was kritische Chirurgen prophezeiten: Die hochgejubelten Netzchen, die die Heilung beschleunigen und Rückfälle verhindern sollen, machen mehr und mehr Probleme. Vor allem bei jungen Leuten.
Bei jungen Menschen besser auf Netze verzichten
Professor Volker Schumpelick, Direktor der Chirurgischen Klinik an der Universitätsklinik Aachen, warnte bereits vor Jahren: Jungen Menschen sollte man die Netze nur einpflanzen, wenn es absolut nötig sei. Der Puls-Tip berichtete im September 98 darüber.
Der Grund seiner Vorsicht: Die Netz-Methoden gibt es erst seit zehn Jahren; und erst seit etwa fünf Jahren wendet man sie auch bei jungen Leuten so breit an. Was passiert, wenn das Netz zwanzig, vierzig oder gar sechzig Jahre im Bauch liegt, weiss niemand.
Professor Schumpelick: «Jeder Fremdkörper kann auch nach Jahren noch Reaktionen verursachen.» Schumpelick hält das routinemässige Einpflanzen der Netzchen in junge Leute sogar für ein «unkalkulierbares Risiko».
Jetzt geben ihm die auftauchenden Probleme Recht. Manche Netze schrumpfen und verklumpen, es gibt wuchernde Narben, eingeklemmte Nerven, chronische Entzündungen oder Netze, die im Körper wandern und zum Beispiel im Darm landen - die Liste der möglichen Komplikationen ist lang.
An Volker Schumpelicks Klinik hat man wegen solcher Probleme inzwischen bereits 120 Netze wieder ausgebaut. Und in den nächsten Jahren könnten zahlreiche dazukommen: Derzeit pflanzen Chirurgen weltweit jedes Jahr eine Million neuer Netzchen ein, allein in der Schweiz sind es schätzungsweise 10000.
Von solchen Bedenken erwähnten die Medien 1998 nichts; manche berichteten wie Sprachrohre der Netzchen-Lobby:
- Die Gesundheitssendung Puls zeigte nur einen einzigen Befürworter, Professor Jochen Lange vom Kantonsspital St. Gallen. Dieser sagte: «Es hat sich gezeigt, dass im Kunststoff nicht die Gefahren liegen, die man befürchtet hat, sodass wir die Bedenken, die wir hatten, nicht mehr haben.»
- Die «Schweizer Familie» bezeichnete eine neue Methode mit einem Kunststoff-Pfropfen zusammen mit einem Netzchen gar als «geniale Technik»; sie sei «schnell, sicher, schmerzlos».
- Fernsehdoktor Samuel Stutz jubelte in der «Schweizer Illustrierten» von einer «phänomenalen» Operationstechnik, wenn der Chirurg wie ein «Künstler» die «Schwachstellen der Natur» flicke. Es sei «höchste Zeit» gewesen, dass «die Behandlung der Leistenbrüche von innovativen Chirurgen revolutioniert wurde».
Mit Netz: Rascher gesund und voll belastbar
Dass die Netz-Methoden schnell populär wurden, erstaunt denn auch nicht: Die Patienten sind tatsächlich schneller schmerzfrei und wieder voll belastbar und haben nur selten einen Rückfall. Das Gewebe durchwächst nämlich das Netzchen und schliesst es ein. Eine Narbenplatte entsteht, was die Wahrscheinlichkeit verkleinert, dass die Schwachstelle erneut reisst.
«In der "Schweizer Illustrierten" stand aber nichts davon, dass diese Methode auch Risiken hat», ärgert sich Johann Faser (Name geändert). Auch der Unternehmer hat starke Beschwerden, nachdem man ihm ein Netz und zusätzlich einen Kunststoff-Pfropfen einpflanzte: «Ich habe Schmerzen, Spannungen, Fremdkörpergefühl und kein Gefühl im Oberschenkel.»
Trotz solcher Fälle halten Befürworter wie Professor Jochen Lange vom Kantonsspital St. Gallen oder Thomas Gabriel aus Thalwil an den Netz-Methoden fest. «Sie erwiesen sich in Studienvergleichen als überlegen», sagt etwa Jochen Lange. Eine Studie, die er dem Puls-Tip vorlegt, empfiehlt allerdings ebenfalls, sie bei jungen Leuten nicht anzuwenden. Lange meint, die Netze seien nicht aufzuhalten: «Die meisten Kliniken in der Schweiz gebrauchen bei Leistenbruchoperationen ebenfalls Netze.»
Viele namhafte Schweizer Chirurgen sind jedoch weit zurückhaltender. Zum Beispiel:
- Professor Thomas Rüedi, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie, Kantonsspital Chur.
- Jürg Ammann, Präsident der Union Schweizerischer Chirurgischer Fachgesellschaften, Kantonsspital Münsterlingen TG.
- Gabriel Ayer, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinchirurgie, Spital Wil SG.
- Zudem eine Reihe weiterer Chefärzte in Spitälern wie Grabs SG, Altstätten SG oder Sursee LU.
Fremdmaterial nur, wenn es nicht anders geht
Sie alle handeln nach dem Grundsatz von Professor Schumpelick: Fremdmaterial wenn immer möglich vermeiden, vor allem aber bei jungen Leuten.
Sie greifen nur zum Netz, wenn das Gewebe sehr schwach, der Bruch sehr gross oder wiederholt aufgetreten ist. Laut Professor Volker Schumpelick ist das bei etwa jedem zehnten Patienten der Fall. In allen anderen Fällen könne man problemlos die Bruchlücken zusammennähen. «Weniger ist mehr», ist seine Devise in der Leistenbruch-Chirurgie.
Hans Ruedi Gonzenbach, Chefarzt Chirurgie am kantonalen Spital Sursee LU, geht sogar noch ein Stück weiter. «Ich habe noch nie ein Kunststoff-Netz verwendet», sagt er. Dagegen hat er schon Netze, die Probleme machten, herausoperiert. Seine prinzipielle Überlegung: «Wenn man etwas mit dem eigenen Körper flicken kann, sollte man keinen Fremdkörper einsetzen.»
Das hätte auch Antonio Ligorio vorgezogen. Der 30-jährige Student musste sich vor zwei Monaten erneut operieren lassen - wieder mit einem Netz. Auch dieser Eingriff half nicht: «Es tut immer noch weh, das Bein ist halbwegs taub», sagt Ligorio. «Es macht mich wütend, weil es zu verhindern gewesen wäre. Ich hätte es auf jeden Fall in Kauf genommen, mich länger zu schonen.»
Anita Baumgartner
Leistenbruch - die häufigste Operation
- Von einem Leistenbruch spricht man, wenn ein Teil des Bauchinhaltes durch eine Schwachstelle im Bauchfell nach aussen drückt. Es bildet sich ein «Bruchsack» aus ausgeleiertem Gewebe. Von aussen sieht man häufig einen Wulst. Bei sehr grossen Brüchen kann es Komplikationen geben, etwa wenn der Darm einklemmt und abstirbt.
- Leistenbrüche sind sehr häufig. Etwa jeder Zehnte leidet einmal im Leben daran. Betroffen sind vor allem Männer, weil sie dort, wo der Samenstrang durch die Bauchwand tritt, eine Schwachstelle haben.
- In der Schweiz finden pro Jahr rund 15 000 Leistenbruch-Operationen statt. Damit ist dieser Eingriff der häufigste der Allgemeinchirurgie.
- Ein Leistenbruch heilt nicht von selber.
Leistenbruch-Operation: Die Vor- und Nachteile der wichtigsten Methoden
Offen, von aussen mit Leistenschnitt
Vorteile:
Meistens genügt eine Lokalanästhesie, die den Körper weniger belastet als eine Vollnarkose; man kann schneller wieder nach Hause.
Der Chirurg kann wählen, ob er
- die Lücke einfach zunähen will (Bassini-Technik);
- mehrere übereinander liegende Nähte macht (Shouldice-Technik);
- ein Kunststoff-Netz über die Lücke legt und rundherum fixiert (Lichtenstein-Technik);
- oder einen Kunststoff-Pfropfen einlegt (Plug-Technik, Bild links).
Nachteile:
Grössere Narbe, vergleichsweise mehr Schmerzen als bei der Laparaskopie.
Mit Laparaskopie (Schlüsselloch-Chirurgie)
Vorteile:
- Äusserlich nur kleine Narben. Weniger Schmerzen.
Nachteile:
- Es ist fast immer eine Vollnarkose nötig, oft auch einige Tage Aufenthalt im Spital.
- Bei der Laparaskopie ist immer ein Kunststoff-Netz oder -Pfropfen nötig. Der Arzt bläst Kohlendioxid ein, damit das Bauchfell abhebt. Dann schiebt er das Netz (Bild) durch ein Röhrchen und fixiert es über der Lücke.
Wichtig: Bei grossen oder wiederholten Leistenbrüchen geht es manchmal nicht ohne ein Kunststoff-Netz. Kunststoff-Pfropfen sollten Sie aber wenn möglich ablehnen. Dabei wird so viel Material eingepflanzt, dass diese Methode selbst viele Netz-Befürworter ablehnen.
Das können Sie tun:
- Fragen Sie Ihren Arzt, welche Operationsmethode er anwenden und ob er ein Kunststoffnetz einpflanzen wird.
- Wenn Sie unter 55 Jahre alt sind, erkundigen Sie sich, ob nicht eine andere Methode ohne Kunststoff-Implantat möglich wäre.
- Suchen Sie bei Unsicherheit einen anderen Spezialisten für eine Zweitmeinung auf.
- Falls Sie sich für eine Operation mit Fremdmaterial entscheiden, verlangen Sie die Packungsbeilage und bewahren diese gut auf. Nach zehn Jahren wird Ihre Krankengeschichte vernichtet. Wenn Sie das Produkt nicht genau kennen, werden Sie keinen Hersteller für verspätete Schäden haftbar machen können.
- Bei Unsicherheiten berät die Schweizerische Patienten-Organisation SPO: Mo-Do 9-12 Uhr und 13.30-16.30 Uhr Tel. 0900 56 70 47 (Fr. 2.13 pro Minute)