Eine «neue Therapie-Ära bei Multipler Sklerose» – so titelte die «Schweizer Illustrierte» und kündete «vielversprechende Medikamente» an. Und die deutsche «Ärzte-Zeitung» schrieb kürzlich: «Die MS-Therapie ist im Umbruch.»
Grund für diese euphorischen Schlagzeilen sind drei neue Medikamente: Lemtrada, Tecfidera sowie Aubagio. Letzteres ist seit kurzem auch in der Schweiz zugelassen. Die Zulassung der beiden anderen Mittel wird von der Arzneimittelbehörde Swissmedic noch geprüft.
Die neuen Medikamente versprechen den Herstellern Biogen Idec und der Sanofi-Tochterfirma Genzyme satte Gewinne. Denn Medikamente gegen Multiple Sklerose sind ein Milliardengeschäft: Rund einer von tausend Menschen ist von der Krankheit betroffen – Frauen doppelt so häufig wie Männer. Zudem müssen die Patienten die Medikamente meist jahrelang nehmen, um das Fortschreiten der Krankheit zu bremsen. Bisher setzen Ärzte dafür vor allem Spritzen mit Beta-Interferon ein.
Von einer «neuen Ära» in der Therapie ist seit Jahren die Rede
Immer wieder verkündeten Pharmafirmen den grossen Durchbruch bei der Therapie von Multipler Sklerose. Dies war bereits in den 1990er-Jahren der Fall, als das Beta-Interferon auf den Markt kamen. «Neue Hoffnung für MS-Patienten», titelte damals die «Pharmazeutische Zeitung». Von einer «neuen Ära» sprach auch die «Sonntags-Zeitung» vor vier Jahren, als mit Gilenya die erste Tablette gegen Multiple Sklerose auf den Markt kam.
Doch Tatsache bleibt: Bis heute lässt sich die Krankheit mit all diesen Medikamenten nur mässig verzögern. Heilbar ist sie noch immer nicht.
Daran ändern auch die drei neusten Mittel nichts, stellen Fachleute klar. Wolfgang Becker-Brüser vom deutschen Fachblatt «Arznei-Telegramm» sieht insgesamt kaum Vorteile gegenüber den bisherigen Medikamenten:
- Für Aubagio sieht Becker-Brüser überhaupt keine Anwendung. Es sei nicht belegt, dass die neuen Tabletten Krankheitsschübe gleich gut vermindern wie das bewährte Beta-Interferon. Unklar sei auch, ob es das Fortschreiten von Behinderungen verzögern könne. Dazu gehören Lähmungen und Sehstörungen. Für Patienten sei dies letztlich weit wichtiger als die Zahl der Schübe.
- Lemtrada vermindere zwar die Anzahl Schübe etwas stärker als Beta-Interferon, so Becker-Brüser. Das ehemalige Krebsmittel, das als Infusion verabreicht wird, führe aber «sehr häufig» zu Nebenwirkungen. Dazu gehören akute Reaktionen auf die Infusion wie Fieber, Kopfweh und Herzprobleme, aber auch Infekte. Möglicherweise könne das Medikament auch Krebs fördern. Lemtrada tauge lediglich «im Einzelfall als letzte Reserve».
- Tecfidera ist laut der unabhängigen US-Zeitschrift «Medical Letter» zwar recht gut verträglich und wirksamer als Aubagio. Auch hier sei aber unklar, ob das Medikament langfristig Behinderungen verzögern könne.
Andreas Baumann, Facharzt für Neurologie und Spezialist für Multiple Sklerose aus Langenthal BE, hält die neuen Mittel insgesamt ebenfalls für «keinen Durchbruch». Man habe damit aber «zusätzliche Möglichkeiten, um die Krankheit zu behandeln». Dies sei wichtig für Patienten, die unter der bisherigen Therapie starke Nebenwirkungen hatten. Oder wenn jemand an einer sehr aktiven Form von Multipler Sklerose leide und andere Medikamente nicht genügend wirkten.
Die Nerven in Gehirn und Rückenmark werden angegriffen
Bei Multipler Sklerose greift der Körper die Schutzschicht der Nerven an. Es kommt zu Entzündungen und die Nerven im Gehirn und Rückenmark sterben mit der Zeit ab. Je nachdem, welche Nerven betroffen sind, äussert sich die Krankheit unterschiedlich: Patienten fühlen sich zum Beispiel sehr müde, ihre Muskeln sind verkrampft, das Gehen wird unsicher, die Blase funktioniert nicht mehr richtig, sie zittern, haben Sehstörungen oder spüren ein Kribbeln in den Gliedern. Solche Beschwerden kommen zu Beginn der Krankheit oft in Schüben, lassen dann wieder nach, um mit dem nächsten Schub erneut aufzutreten. Mit den Jahren wird die Krankheit meist schlimmer und es kommt zu bleibenden Schäden. Tödlich ist Multiple Sklerose aber für die meisten Betroffenen nicht.
Multiple Sklerose tritt in nördlichen Ländern häufiger auf
Wieso die Krankheit ausbricht, weiss man bis heute nicht. In den letzten Jahren diskutieren Forscher unter anderem über einen möglichen Zusammenhang mit Vitamin D. Grund: Multiple Sklerose tritt in nördlichen Ländern häufiger auf – also dort, wo die Menschen schlechter mit dem Sonnenvitamin versorgt sind. Zudem liess sich beobachten, dass Patienten mit wenig Vitamin D im Blut häufiger Schübe hatten und die Krankheit schwerer verlief.
Wolfgang Becker-Brüser mahnt aber zu Zurückhaltung: «Daraus lässt sich nicht schliessen, dass Vitamin-D-Präparate gegen Multiple Sklerose helfen.» Es gebe dazu bisher nur sehr kleine Studien – und diese hätten bisher keinen Effekt gezeigt.
Zur Kritik an ihrem Medikament sagt die Pharmafirma Biogen Idec, dass sie die Wirksamkeit und Sicherheit von Tecfidera in zwei grossen Studien nachgewiesen habe. Dabei habe sich gezeigt, dass auch das Fortschreiten der Behinderung «signifikant verzögert» werde. Sanofi, deren Tochterfirma Genzyme Aubagio herstellt, ist überzeugt, dass dieses Vorteile biete, die für Patienten relevant seien. Studien hätten nachgewiesen, dass es wirksam sei. Bei ihrem zweiten Produkt Lemtrada würden zwar leichte und mittelschwere Nebenwirkungen häufiger auftreten, nicht aber schwerwiegende. Laut den Daten von Sanofi gibt es keine Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko.
Tipps: Informationen und Beratung
Schweizerische MS-Gesellschaft,
Josefstrasse 129,
Postfach, 8031 Zürich,
Tel. 043 444 43 43, www.multiplesklerose.ch
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