Während der Stichprobe erlebten die K-Tipp-Einkäufer Erstaunliches: In einer Coop-Filiale schnitt die Verkäuferin ein Stück Fleisch ab. Leider wog es nur 188 statt der verlangten 200 Gramm. Deshalb legte sie es weg – ohne den Kunden zu fragen, ob er es trotzdem möchte. Beim zweiten Versuch wog das Fleisch dummerweise erneut 188 Gramm. Also wieder weg damit. Beim dritten Versuch schliesslich waren es dann 254 Gramm. Als ob nichts wäre, packte die Verkäuferin das «übergewichtige» Stück ein und übergab es dem verdutzten Kunden.
Zu grosse Portionen in vier von fünf Fällen
Für die Stichprobe besuchte der K-Tipp zehn Coop- und elf Migros-Filialen in Basel, Bern und Zürich. An der Offenverkaufstheke wurden stets 200 Gramm Fisch, Fleisch oder Käse verlangt – insgesamt 50 Mal (siehe Tabelle im PDF). Der K-Tipp-Testkäufer akzeptierte immer, was ihm angeboten wurde – wie das die meisten Kunden tun. Das Resultat:
In 38 Fällen packten die Verkaufsangestellten zu viel, in 12 Fällen zu wenig ein.
Die schwerste Probe wog 276 statt 200 Gramm (Migros Dreispitz in Basel), die leichteste Probe 176 Gramm (Coop St. Annahof in Zürich).
Im Durchschnitt wogen jene Proben, die zu schwer waren, 228 Gramm – bei Coop 226 und bei der Migros 231 Gramm.
Das Durchschnittsgewicht aller Proben betrug 219 Gramm. Mit anderen Worten: Coop und Migros verkauften im Offenverkauf durchschnittlich 10 Prozent mehr, als der Kunde wünschte.
Dass die Angestellten im Offenverkauf gerne ein bisschen drauflegen, kann Kunden teuer zu stehen kommen. Die erwähnten 76 Gramm «Übergewicht» machen bei einem Kilopreis von 80 Franken, wie er bei bestimmten Fleisch- und Fischqualitäten vorkommt, einen Mehrpreis von über 6 Franken aus.
Migros und Coop sehen angesichts der Resultate keinen Handlungsbedarf. Coop schreibt: «In unseren Ausbildungsprogrammen wird das Schneiden an der Offentheke aber regelmässig thematisiert und dann in der Praxis verfeinert.» Auch bei der Migros «werden die Mitarbeiter geschult». Beide Detailhändler sagen, es sei schwierig, das Gewicht abzuschätzen.
Das ist gut möglich. Nur: Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssten Einkäufe je etwa zur Hälfte über- und untergewichtig sein, wenn die Verkäufer tatsächlich die gewünschte Menge von 200 Gramm abschneiden wollten. Aber fast vier von fünf Mal war die Portion zu gross. Das deutet darauf hin, dass die Angestellten eher zu viel als zu wenig verkaufen wollen. Coop und Migros sagen jedoch, es gebe es keine entsprechenden Erwartungen oder gar Vorgaben an die Angestellten.
Coop erachtet eine Abweichung von plus/minus 10 Prozent «als akzeptabel». Allerdings lagen 10 von 25 Proben ausserhalb der von Coop definierten Toleranz. Die gewichtigste Probe war 27 Prozent schwerer.
«Übergewicht» bringt Millioneneinnahmen
Die Migros sagt nicht, welche Abweichungen sie zulässig findet. Klar ist aber: In ihren Filialen waren 13 Proben mehr als 10 Prozent zu schwer – also mehr als die Hälfte aller Proben.Migros und Coop erklären, der Kunde könne ja reklamieren, falls er mit der Menge nicht einverstanden sei.
Tatsache ist: Für Coop und Migros schenkt das Geschäft mit dem «Übergewicht» tüchtig ein. Aufgrund der Zahlen in den Geschäftsberichten 2015 errechnete der K-Tipp, dass Coop allein mit Offen-Fisch und -Fleisch rund 260 Millionen Franken pro Jahr einnimmt, die Migros gar rund 270 Millionen.
Das heisst: Die Einnahmen aus dem «Übergewicht» betragen bei beiden Detailhändlern zusammen rund 50 Millionen. Coop wollte sich zu diesen Zahlen «nicht äussern», die Migros wollte sie «nicht bestätigen».