Die 31-Jährige Sabrina Hofer (Name geändert) ist in der Region Bern seit zehn Jahren für die Coiffeur-Kette Gidor tätig. Coiffeuse ist Hofers Traumberuf. Doch auch nach zehn Jahren verdient sie für ein volles Pensum netto nur 3300 Franken im Monat. Das reicht ihr knapp, um die Rechnungen und den Lebensunterhalt zu finanzieren. Für die Miete zahlt die Coiffeuse, die keine Kinder hat und mit ihrem Mann zusammen wohnt, 2300 Franken, für die Krankenkasse 420 Franken. «Ich bin aufs Trinkgeld der Kunden angewiesen, um zu überleben» sagt sie dem K-Tipp. Dieses betrage aber nur 100 bis 200 Franken im Monat.
Etwas dazuverdienen können Angestellte von Gidor mit dem Verkauf von Haarpflegeprodukten. Für 400 Franken Umsatz pro Monat erhalten die Coiffeusen eine Provision von 10 Prozent, ab 800 Franken 20 Prozent. Hofer kann damit ihren Monatslohn so noch um rund 100 Franken aufbessern.
Mindestlohn heisst nicht Mindestlohn
Gidor ist kein Einzelfall: Die Arbeitsbedingungen von Sabrina Hofer sind in der Branche üblich und in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) zwischen dem Arbeitgeberverband Coiffeur Suisse einerseits sowie den Gewerkschaften Syna und Unia andererseits vereinbart.
Der Bundesrat hat diesen GAV vor drei Jahren für allgemeinverbindlich erklärt. Das bedeutet: Er gilt für alle Arbeitgeber und Angestellten der Coiffeurbranche in der Schweiz – auch für diejenigen, die nicht Verbandsmitglied sind. Der Mindestlohn beträgt gemäss GAV für die gelernten Coiffeusen und Coiffeure brutto 3800 Franken im Monat. Im fünften Jahr nach der Lehre steigt er auf 4000 Franken brutto – mal zwölf, nicht dreizehn.
Der Mindestlohn darf laut dem GAV unterschritten werden. Bei Berufseinsteigern im ersten Jahr nach der Berufslehre darf er auf 3400 und im zweiten auf 3600 Franken gesenkt werden. Dies gilt dann, wenn wenn Angestellte im Monat nicht wenigstens 9500 Franken Umsatz erreichen.
Gemäss dem Arbeitsvertrag von Gidor haben Angestellte einen Anspruch auf eine Provision von 10 Prozent im Falle eines Umsatzes von über 9500 Franken monatlich. «Dieser Mindestumsatz ist ein Witz, den erreicht praktisch niemand», sagt dazu Vanessa Cabral, die zehn Jahre lang bei Gidor in Regensdorf ZH und Schlieren ZH arbeitete. Die meisten würden pro Monat nur zwischen 6000 und 9000 Franken erreichen.
Der GAV unterbietet gesetzliche Standards
Der Gesamtarbeitsvertrag der Coiffeurbranche legt nicht nur tiefe Mindestlöhne fest, er verschlechtert auch noch die Arbeitsbedingungen im Vergleich zur minimalen gesetzlichen Regelung im Obligationenrecht. Einige Beispiele:
- Überstundenregelung: Landesweit gilt in allen Branchen, dass die Stunden, die über das vereinbarte Arbeitspensum hinaus gearbeitet werden, Überstunden sind. Sie müssen entweder mit einem Zuschlag ausbezahlt oder zeitlich kompensiert werden. Im Coiffeur-GAV ist eine Arbeitszeit von 43 Stunden festgeschrieben. Die 44. Wochenstunde gilt jedoch noch nicht als Überstunde, erst die 45. Faktisch sind die Präsenzzeiten bei Coiffeuren generell hoch, weil mangels Kunden häufig unbezahlte Pausen anfallen. Bei Gidor kann eine Schicht beispielsweise von 8 bis 20 Uhr dauern – also rund 12 Stunden. Eine ehemalige Mitarbeiterin erlebte aber auch, dass sich die erste Pause von 30 Minuten bis auf 17 Uhr verschob – je nach Kundenanfall. Gidor sagt dazu, die Pause von 30 Minuten entspreche dem Wunsch der Mitarbeiter – so könnten sie das Geschäft am Abend früher verlassen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Arbeits- und Ruhezeiten würden jederzeit eingehalten.
- Arbeitsutensilien: Laut Gesetz müssten die Arbeitgeber die Angestellten «mit den Geräten und dem Material ausrüsten, die diese zur Arbeit benötigen». Doch diese Bestimmung gilt nur, wenn nichts anderes abgemacht wurde und nichts anderes üblich ist. In der Coiffeurbranche ist es aber üblich, dass die Angestellten ihre Scheren, Bürsten und Kämme selbst bezahlen. Sabrina Hofer zum Beispiel musste für den Kauf von zwei Scheren 900 Franken ausgeben. Dafür brauchte sie ihr ganzes Erspartes auf.
- Konkurrenzverbot: Der Gesamtarbeitsvertrag beschränkt nach dem Verlassen einer Stelle die freie Wahl des neuen Arbeitgebers. «Der Arbeitnehmer kann sich gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich verpflichten, nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sich jeder konkurrenzierenden Tätigkeit zu enthalten», steht im GAV. Bei Gidor etwa wird ehemaligen Angestellten verboten, im Umkreis von 5 Kilometern zu den Konkurrenzketten Orinad und Hair X-Press zu wechseln. Sonst müssen sie zwei Monatslöhne Strafe zahlen.
- Privatsphäre: Der GAV greift sogar in die Privatsphäre der Angestellten ein. Es ist ihnen untersagt, in der Freizeit die Haare von Familienangehörigen, Verwandten und Bekannten zu pflegen. «Arbeitnehmerinnen dürfen während der Freizeit und den Ferien keine entgeltliche oder unentgeltliche Coiffeur-Berufsarbeit leisten», steht im GAV.
Gewerkschaftlich schlecht organisiert
Die schlechten Arbeitsbedingungen haben einen Grund: Am Verhandlungstisch sassen für die Arbeitgeber Mitglieder des Verbands Coiffeur Suisse, unter anderen Damien Ojetti und Marc Riedo, beide Geschäftsführer von Coiffeur-Luxussalons in Genf und Bern, sowie René Sommer, Geschäftsführer von Coiffina. Sie vertreten 70 Prozent der 4400 Coiffeursalons in der Schweiz. Für die Angestellten verhandelten die Gewerkschaften Unia und Syna. Sie vertraten aber nur gerade 9 respektive 3 Prozent der Angestellten.
Das Resultat der Verhandlungen war für die Angestellten entsprechend unerfreulich. «Wir sind mit dem Ergebnis nicht zufrieden», sagt Migmar Dhakyel, Branchenleiterin bei Syna.
Für die Verbände aber hat sich der GAV und seine Allgemeinverbindlicherklärung durch den Bundesrat gelohnt. Denn jeder Betrieb und alle Angestellten müssen pro Jahr laut Vertrag 80 Franken für die Durchführung des GAV bezahlen. Das ergibt bei 4400 Betrieben und 11 000 Angestellten rund 1,2 Millionen Franken. Die eine Hälfte dieser Gelder erhält der Arbeitgeberverband Coiffure Suisse, die andere teilen sich Unia und Syna.
Mit den Einnahmen aus dieser Zwangsabgabe kontrolliert die aus den Verbänden gebildete Kommission des Coiffeurgewerbes die Einhaltung des GAV. Ergebnis von 400 Stichproben im Jahr 2020: Die Mindestlöhne werden oft nicht eingehalten. 41 Prozent der überprüften Arbeitgeber zahlten den Angestellten zu wenig Lohn. Und viele Salons erfassten die Arbeitszeiten falsch oder gar nicht.