Heute dürfen in der Schweiz einem Menschen nur dann Organe entnommen werden, wenn er zu Lebzeiten einer Organspende zugestimmt hat – oder wenn seine Angehörigen vorgängig ihr Einverständnis gaben. Diese Regelung soll nun ins Gegenteil verkehrt werden. Das bedeutet: Künftig gilt jeder und jede als potenzieller Spender, sofern er oder sie eine Organentnahme nicht ausdrücklich ablehnt.
Das neue Gesetz wurde vom Bundesrat vorgeschlagen. Die heutige Bundesrätin Viola Amherd hatte als Nationalrätin zwischen 2008 und 2014 dreimal Anträge mit diesem Anliegen eingereicht. Sie waren damals chancenlos. Der neueste Anlauf hingegen wurde im Juni im Nationalrat mit einem Stimmenverhältnis von 150 zu 34 angenommen.
«Organspende wird zur Normalität»
Die Zürcher Wissenschafterin Birgit Christensen schreibt dazu in der neuesten Ausgabe des Juristenmagazins «Plädoyer»: «Mit der neuen Regelung ist die Organspende nicht mehr eine Gabe, der die Spender im Einzelfall aus freien Stücken zustimmen, sondern Normalität.» Nach gegenwärtiger Rechtslage aber sei jeder medizinische Eingriff ohne Einwilligung des Patienten «eine Verletzung der verfassungsmässig garantierten körperlichen Integrität». Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper gelte über den Tod hinaus. Im Bereich der Transplantationschirurgie will der Bundesrat nun in diesem Bereich eine Ausnahme statuieren.
«Selbstbestimmung unterlaufen»
Auch Andrea Büchler, Zürcher Rechtsprofessorin und Präsidentin der Nationalen Ethikkommission, kritisiert den Gesetzesvorschlag des Bundesrates: Schweigen sei keine Zustimmung. «Ein Mensch kann nur dann einen autonomen Entscheid in dieser fundamentalen Frage treffen, wenn er ausreichend informiert wurde und Zeit gehabt hat, darüber nachzudenken.» Die geplante Regelung unterlaufe das Selbstbestimmungsrecht als grundlegendes Prinzip.
Entnahme bei Hirntoten umstritten
Organentnahmen sind nur zulässig, wenn ein Mensch bereits mit dem Hirntod für tot erklärt wird. «Das Hirntodkriterium ist in der Fachwelt aber seit Jahren höchst umstritten», sagt Wissenschafterin Christensen. Sie kritisiert, dass die Bevölkerung darüber ungenügend aufgeklärt werde. Hirntote Menschen würden intensivmedizinisch am Leben erhalten, sie atmen, ihr Herz schlägt. Der Tod des Körpers tritt erst mit der Organentnahme ein. Organe von Leichen dürfen und können nicht transplantiert werden. Die Organspende- Kampagne von Swisstransplant, der Stiftung für Organspende und Transplantation, sowie des Bundesamts für Gesundheit würden diese Problematik ausblenden, stellt Christensen fest. Die Kampagne argumentiere mit der «Solidarität» der Spender. Die Gruppe «Ärzte und Pflegefachpersonen gegen Organspende am Lebensende» forderte wiederholt vergeblich eine öffentliche Diskussion über die Hirntodproblematik.
Stattdessen wird nun am 20. September die kleine Kammer des Parlaments entscheiden, ob «die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger in einem entscheidenden Punkt untergraben wird», wie der Zürcher Professor Thomas Gächter kürzlich in einem Beitrag auf dem Portal «Jusletter» schrieb.
Stimmt der Ständerat der neuen Regelung zu, wird sie eingeführt. Ohne Diskussion und Zustimmung der davon betroffenen Bevölkerung – falls dagegen kein Referendum zustande kommt.