Wenn ein Flug stark verspätet ist, haben Passagiere in Europa zwischen 277 und 666 Franken zugut. Ein Anspruch auf Entschädigung – eine sogenannte Ausgleichszahlung – steht ihnen auch dann zu, wenn sie wegen Überbuchung am Check-in abgewiesen werden oder ein Flug ausfällt. Die Ausnahme: Aussergewöhnliche und unvermeidbare Umstände waren Grund für die Verspätung oder die Annullierung des Fluges.
So weit die Theorie. In der Praxis pflegen viele Airlines Entschädigungsforderungen immer wieder zu ignorieren – auch die Swiss. Denn sie werden nur selten gebüsst, wenn sie gegen die Passagierrechtsverordnung verstossen (K-Tipp 10/15). Und sie spekulieren darauf, dass nur wenige Kundinnen und Kunden wegen ein paar Hundert Franken bei einem Gericht eine Klage einreichen.
Auch Reinhard Broder, Stefanie Weisshaupt und Linus Beck (Namen geändert) stiessen mit ihren Gesuchen um Ausgleichszahlung auf taube Ohren:
- Broder wollte im letzten Juli mit Air Baltic von Zürich via Riga (Lettland) nach Tallinn (Estland) fliegen. Doch der Abflug in Zürich verspätete sich um eine Stunde, sodass Broder den Anschlussflug in Riga verpasste. Er traf erst Stunden nach der planmässigen Ankunftszeit in Tallinn ein. Air Baltic lehnte seine Entschädigungsforderung ab. Argument: «Unerwartete Umstände» wie starker Gegenwind auf dem Vorflug hätten den verspäteten Start in Zürich verursacht.
- Weisshaupt und Beck wollten im August mit der Swiss von Berlin nach Zürich fliegen. Ihr Abendflug wurde kurzfristig annulliert. Die Rückreise war erst am nächsten Morgen möglich. Als Grund für die Annullierung gab die Swiss eine «unabwendbare, sicherheitsbedingte Flugunregelmässigkeit (Defekt an der Hydraulik)» an. Die Airline stufte dies als aussergewöhnlichen Umstand ein und verweigerte die geforderte Entschädigung von zweimal Fr. 277.50.
Per Internet Auftrag an Inkassodienst
Doch Broder, Weisshaupt und Beck gaben sich damit nicht zufrieden. Mit Hilfe des K-Tipp beauftragten sie per Internet die Inkassodienste Flightright (Broder), Fairplane (Weisshaupt) und Claimflights (Beck), ihre Forderungen gegen Air Baltic und die Swiss durchzusetzen.
Solche Inkassodienste sind inzwischen recht zahlreich. Auf ihren Websites bieten sie Passagieren die Möglichkeit, Fälle von Verspätung, Überbuchung oder Annullierung in einen Entschädigungsrechner einzugeben. Das dauert etwa fünf bis zehn Minuten. Anschliessend erfährt man, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäss europäischer Passagierrechtsverordnung bestehen könnte.
Beim Abklären von Entschädigungsansprüchen stützen sich die Inkassodienste in der Regel auf eigene Flug- und Wetterdatenbanken. Diese enthalten etwa Daten über Flugpläne, Airports, Bewegungen und Standorte einzelner Flugzeuge oder über Wetterverhältnisse – und zwar teils auf Jahre zurück. Das erlaube es, «den oft nicht oder nicht ganz richtigen Ausreden der Airlines mit Fakten entgegenzutreten», so Fairplane-Sprecher Ronald Schmid.
Kein Risiko für den Auftraggeber
Sind die Inkassodienste bereit, einen Fall zu übernehmen, verlangen sie vom Kunden eine Vollmacht. Dann versuchen sie zunächst, die Fluggesellschaft aussergerichtlich zur Entschädigungsleistung zu bewegen. Falls das nicht gelingt, bringen sie die Sache vor Gericht. Der Auftraggeber hat dabei kein finanzielles Risiko. Im schlimmsten Fall erhält er nichts, im Erfolgsfall die Entschädigungszahlung abzüglich einer Provision für den Inkassodienst. Sie beläuft sich auf 24 bis 30 Prozent der von der Fluggesellschaft bezahlten Entschädigungssumme (Tabelle).
Für Stefanie Weisshaupt und Linus Beck hat sich der Gang zum Inkassodienst gelohnt. Nachdem sich Fairplane und Claimflights der Sache angenommen hatten, war die Swiss plötzlich zahlungsbereit.
Gegenüber dem K-Tipp erklärt die Swiss, man sei nach wie vor der Ansicht, dass eine Entschädigung nach Schweizer Recht «nicht erforderlich» gewesen wäre. Doch gebe es in der EU keine einheitliche Handhabung der Passagierrechtsverordnung: «Lokale Gerichte und Schlichtungsstellen der einzelnen Mitgliedstaaten entscheiden in der Praxis sehr unterschiedlich.» Mit anderen Worten: Swiss fürchtete, vor einem deutschen Gericht gegen die Inkassodienste zu unterliegen – und zahlte.
Kein Glück hatte dagegen Reinhard Broder: Air Baltic zahlte nicht, auch nachdem sich Flightright eingeschaltet hatte. Von einer Klage vor Gericht sah der Inkassodienst ab. Denn als Gerichtsstand wären in Broders Fall entweder Lettland oder Estland in Frage gekommen, wo Flightright über keine Partneranwälte verfügt – oder die Schweiz. Hier führt der Inkassodienst erst einige Musterverfahren. Grund: Im Nicht-EU-Land Schweiz gebe es bei der Anwendung der Passagierrechtsverordnung «rechtliche Schwierigkeiten».
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