Patientenfalle im Gesetz
Hohe Prämien zahlen, dann aber keine Leistung erhalten: Das kann Versicherten passieren. Schuld ist ein umstrittener Paragraph, den das Parlament beibehalten will.
Inhalt
K-Tipp 7/2004
07.04.2004
Ernst Meierhofer - emeierhofer@ktipp.ch
Streichen Sie Artikel 9. Sonst ist absehbar, dass Sie die Zusatzversicherungen der Krankenkassen kompostieren können.» Mit diesen blumigen Worten kämpfte SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer am 17. März 2004 im Rat für ihr Anliegen.
Streitpunkt war Artikel 9 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG). Er besagt, dass bereits bestehende Leiden grundsätzlich nicht versicherbar sind.
Die Konsequenz kann für Versicherte verheerend sein, wie der K-Tipp in...
Streichen Sie Artikel 9. Sonst ist absehbar, dass Sie die Zusatzversicherungen der Krankenkassen kompostieren können.» Mit diesen blumigen Worten kämpfte SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer am 17. März 2004 im Rat für ihr Anliegen.
Streitpunkt war Artikel 9 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG). Er besagt, dass bereits bestehende Leiden grundsätzlich nicht versicherbar sind.
Die Konsequenz kann für Versicherte verheerend sein, wie der K-Tipp in Nummer 14/02 an einem konkreten Beispiel gezeigt hat: Ein Kunde der Krankenkasse Assura gab bei der Anmeldung für eine Zusatzversicherung an, er leide an einer Nasennebenhöhlen-Entzündung.
Die Assura versicherte ihn trotzdem ohne irgendwelche Vorbehalte. Als jedoch eine Nasenoperation anstand, zahlte die Assura aus der Zusatzversicherung trotzdem nichts; sie konnte sich auf Artikel 9 VVG berufen.
«Absurde Lücke in der Leistungspflicht»
Das heisst: Der Kunde hatte zwar die Prämien gezahlt, aber als es darauf ankam, erhielt er keine Leistung.
Krankenkassen-Ombudsman Gebhard Eugster kritisierte damals im K-Tipp: «Es kommt leider immer wieder vor, dass Versicherer ihre Kunden so in die Falle laufen lassen. Das ist unfair.»
Schlimmer noch: Die Versicherung darf sogar dann kneifen, wenn der Kunde gar nichts von seiner Krankheit wusste, als er den Antrag ausfüllte. Das kann der Fall sein, wenn jemand bei Versicherungsabschluss bereits ein Herzleiden hatte, von dem noch nichts zu spüren war. Das betrifft sowohl Zusatzversicherungen von Krankenkassen als auch Risiko-Lebensversicherungen.
Genau diese «absurde Lücke in der Leistungspflicht» der Versicherer wollte die SP-Vertreterin Leutenegger Oberholzer mit der Streichung von Artikel 9 VVG schliessen.
Doch der Nationalrat folgte ihr nicht und beliess Artikel 9 im Gesetz. Dort wird er vorderhand auch bleiben, denn im Ständerat war das Streichungsbegehren genauso chancenlos. In der kleinen Kammer hatte sich SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga engagiert: Mit dieser Bestimmung würden «die Versicherten in einem Ausmass benachteiligt, das wir nicht hinnehmen dürfen».
Dass die Anliegen der Versicherten bei den zwei Räten kein Gehör fanden, erstaunt nicht: Beide Räte sind mit Versicherungslobbyisten reichlich bestückt (siehe Kasten auf Seite 8).
Das Nein im Parlament hat die Krankenkasse KPT zu einem konsumentenfreundlichen Schritt bewogen. Sie hat in der neusten Mitgliederzeitung offiziell verkündet, sie halte den Artikel 9 für überflüssig und werde ihn «folglich nie anwenden».
«Sehr gut», kommentiert Ombudsman Eugster. «Dem Versicherten sollen nur Krankheiten angerechnet werden, die ihm im Zeitpunkt des Abschlusses bekannt waren oder bekannt sein mussten, also nur Tatsachen, die er in der Ge-sundheitserklärung angeben muss.»
Versicherer beharren auf ihrem Recht
Wie aber halten es die anderen grossen Krankenkassen und privaten Versicherungsgesellschaften mit diesem sehr kundenfeindlichen Paragraphen?
- Auf Anfrage des K-Tipp betonen Atupri, Concordia, Helsana, Sanitas, Supra und Swica ohne Einschränkungen, dass sie Artikel 9 ebenfalls nicht anwenden.
- Allianz, Basler, CSS, Generali, Helvetia-Patria, Intras, ÖKK, Providentia, Rentenanstalt, Visana, Wincare, Winterthur und Zürich hingegen beharren grundsätzlich auf ihrem Recht. Die Rentenanstalt sagt, es gebe bei ihr «pro Jahr eine Handvoll solcher Fälle».
Artikel 9 ist nicht die einzige böse Überraschung, die das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) für Konsumentinnen und Konsumenten bereit- hält.
Tückisch ist auch Artikel 6. Er besagt: Verschweigt ein Antragsteller ein Leiden, muss die Versicherung auch dann nicht zahlen, wenn ein anderes Leiden akut wird, das mit dem verschwiegenen gar nichts zu tun hat.
Ein Pluspunkt für die Versicherten
In diesem Punkt hat das Parlament - immerhin - eine Verbesserung beschlossen. Wenn die VVG-Teilrevision in Kraft tritt (voraussichtlich auf Anfang 2006), sind solche Leistungsverweigerungen nur noch dann erlaubt, falls zwischen der nicht deklarierten Gesundheitsstörung und dem neu aufgetretenen Leiden ein Zusammenhang besteht.
Beispiel: Jemand verschweigt sein Knieleiden. Bis jetzt konnte die Versicherung die Zahlung selbst dann verweigern, wenn später eine Ellbogenoperation anstand. Künftig hingegen darf die Versicherung nur noch bei Knieproblemen kneifen.
Der K-Tipp wollte deshalb wissen: Welche Versicherer sind schon jetzt freiwillig dazu bereit, Leistungen nur dann zu verweigern, wenn ein Zusammenhang zum verschwiegenen Leiden besteht?
- Das sind nebst der KPT auch Atupri, Concordia, Helsana, Helvetia-Patria, Rentenanstalt, Supra und Swica.
- Die meisten Anbieter hingegen nutzen auch hier den gesetzlichen Spielraum voll aus, solange sie noch können. Zu ihnen gehören Allianz, Basler, CSS, Generali, Intras, ÖKK, Providentia, Sanitas, Visana, Wincare, Winterthur und Zürich.
Die Lobbyisten der Versicherungen
Dass das Parlament wenig Gehör für wichtige Konsumentenanliegen hat, ist kein Zufall. Viele Mitglieder sind mit der Versicherungsbranche verbandelt.
Die Interessen der Versicherungswirtschaft sind in Bern gut vertreten - insbesondere in den vorberatenden Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Sie haben bei der jetzt anstehenden teilweisen Revision des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) wichtige Entscheide vorgespurt:
- In der WAK des Ständerates waren zum damaligen Zeitpunkt 5 von 12 Mitgliedern Versicherungsvertreter:
Christoffel Brändli (SVP GR): Krankenkassenverband Santésuisse,
Anton Cottier (CVP FR): Pax,
Eugen David (CVP SG): Helsana,
Theo Maissen (CVP GR): Concordia,
Fritz Schiesser (FDP GL): Mobiliar.
- In der WAK des Nationalrates kann man 7 von 25 Mitgliedern als Versicherungslobbyisten bezeichnen:
Caspar Baader (SVP BL): Schweizerische Hagelversicherung,
Gerold Bührer (FDP SH): Swisslife,
Hans Kaufmann (SVP ZH): IST Investmentstiftung für Personalvorsorge, Fundamenta,
Doris Leuthard (CVP AG): CSS,
Jean-Philippe Maitre (CVP GE): Allianz,
Fulvio Pelli (FDP TI): Mobiliar,
Hansjörg Walter (SVP TG): Krankenkasse Agrisano.