Pflegerinnen und Pfleger beschäftigen sich nicht nur mit dem Wechseln von Verbänden, Waschen von Heimbewohnern oder der Abgabe von Medikamenten. Pro betreute Person arbeiten sie im Durchschnitt auch täglich 69 Minuten am Computer (K-Tipp 4/2023).
Simone Brenn aus Hüniken SO ist eine von vielen, die die K-Tipp-Recherche bestätigen. «Es ist erschreckend, wie viel Bürokratie den Pflegealltag unnötig belastet.» Ihr Vorschlag: «Die Krankenkassen sollten ihre Haltung überdenken. Sie sind es, die verlangen, dass wir Tag für Tag jeden einzelnen Arbeitsschritt dokumentieren müssen.» Auch für Pia Thomann aus Chur sind die Krankenkassen die Hauptverantwortlichen: «Sie fordern immer detailliertere Berichte bei der Einschätzung der Pflegestufe.»
Höhere Pflegestufe, mehr Geld
Pflegestufen dienen dazu, festzulegen, wie hilfsbedürftig ein Bewohner ist. Für die Pflegestufe 1 bezahlen Krankenkassen pro Tag Fr. 9.60 (Pflegebedarf: bis 20 Minuten), für die Pflegestufe 12 Fr. 115.20 (mehr als 220 Minuten Pflege). Bestimmt wird die Pflegestufe mit den im Computer erfassten Pflegeleistungen.
Laut Christian Locher aus Zollikofen BE sind neben den Krankenkassen aber auch die Pflegeheime für den höheren Aufwand verantwortlich. Der pensionierte Pfleger schildert, wie er zwischen Heimbewohnern und Computer hin- und herhetzte. Kaum verliess er das Zimmer einer Bewohnerin, musste er jeden Handgriff dokumentieren.
Nicht selten fiel der Bericht am Computer dramatischer aus als die Realität. Schnitt Locher nur einmal einer Bewohnerin das Essen mundgerecht zu, stand in der Bewohnerakte: «Essen eingegeben». Ein solcher Vermerk ist nur angebracht, wenn Bewohner dauerhaft Hilfe beim Essen benötigen. Und wenn Locher einen Bewohner im Bett anders lagerte, tippte er am Computer: «Patient 20 cm hochgerückt – zu zweit.» Nur: Hochgerückt hat Locher den Bewohner allein – und das «zu zweit» lediglich notiert, um mehr Pflegebedarf nachzuweisen.
«Meine Vorgesetzten drängten mich dazu»
«Ich musste bei so manchem Arbeitsrapport übertreiben. Dieses ‹Lügen› hat mich immer belastet», sagt Christian Locher. «Meine Vorgesetzten drängten mich dazu, weil das in der Summe die Pflegestufe erhöht.»
Christian Locher arbeitete im Pflegeheim Zentrum Schönberg in Bern und im Tertianum Lindenegg in Oberlindach BE. Beide sind auf Demenz spezialisiert – beide Einrichtungen haben laut Locher von ihm verlangt, mehr Pflege zu dokumentieren, als er erbrachte. Geschäftsführerin Katrin Bucher vom Zentrum Schönberg bestreitet dies: «Wir können nicht in jedem Fall ausschliessen, dass fehlerhaft dokumentiert wird. Es stimmt aber nicht, dass wir mit falschen Rapporten den Profit erhöhen wollen.»
Auch Roger Zintl von der Tertianumgruppe streitet eine Manipulation von Rapporten ab: «Die Pflegestufen werden von den Krankenkassen streng kontrolliert und sogar zurückgestuft. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen penibel dokumentieren – aber nur effektiv geleistete Arbeiten.»
Der grösste Grundversicherer, die CSS, sagt dazu: «Über alle Pflegestufen hinweg könnte es eine Tendenz dazu geben, dass Bewohner schneller in eine höhere Pflegestufe kommen.» Und der Heimverband Curaviva schreibt: «Wir können bestätigen, dass der Pflegebedarf pro Person in den Pflegeheimen höher ist als noch vor 10 Jahren.»