Eine Nacht im Jahr 2020: Im Isolierzimmer auf der Kinderintensivstation eines Deutschschweizer Spitals kämpft ein Neugeborenes um sein Leben. Sein Herz schlägt nur noch langsam. Die diensthabende Pflegefachfrau reagiert schnell und beginnt mit der Wiederbelebung. Alleine – notgedrungen. Für eine fachgerechte Reanimation bräuchte es zwei Personen. Doch ihre Kollegin bringt gerade ein Neugeborenes auf die Wochenbettstation. Eine weitere Pflegefachfrau, die normalerweise Dienst hat, fehlt.
“Eine gefährliche Situation für das Kind”
«Eine gefährliche Situation für das Kind», protokolliert die diensthabende Pflegefachfrau später im geheimen Fehlermeldesystem CIRS. In dieses System trägt das Personal anonymisiert schwerwiegende Mängel ein, damit die Spital- und Heimverantwortlichen anschliessend Verbesserungen einleiten. Im Auszug, der dem K-Tipp vorliegt, bemängelt die Frau den zu tiefen Personalbestand auf der Station.
Dass qualifiziertes Pflegefachpersonal fehlt, ist kein Einzelfall. Spitäler und Heime suchen jeden Tag über Temporärbüros mehrere Hundert Pflegefachpersonen für Einsätze noch am gleichen Tag. In fünf bis zehn Prozent erfolglos.
Personalnot herrscht vor allem bei gut ausgebildeten, diplomierten Pflegefachkräften. Sie bringen drei Jahre Ausbildung mehr mit als «Fachangestellte Gesundheit».
Doch Spitäler und Heime besetzen offene Stellen von diplomierten Pflegefachpersonen immer häufiger mit weniger qualifizierten «Fachangestellten Gesundheit». Das zeigt der Bericht «Pflegepersonal 2018» des Bundesamts für Statistik. Von den 146 000 Vollzeitstellen in der Pflege nahm der Anteil an diplomierten Pflegefachpersonen seit 2012 ab – von 49,3 Prozent auf 47,5 Prozent im Jahr 2018. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der weniger qualifizierten Fachangestellten Gesundheit um 2,4 Prozent.
Ein Grund für diese Entwicklung sind die unterschiedlichen Löhne: Eine «Fachangestellte Gesundheit» mit einer dreijährigen Berufsausbildung verdient direkt nach der Ausbildung brutto 4500 Franken pro Monat. Eine diplomierte «Pflegefachperson HF» nach ihrer sechsjährigen Ausbildung hingegen 5200 Franken. Nach 20 Jahren kommt sie auf 7100 Franken Monatslohn.
“Wegen Verstopfung ins Spital eingeliefert”
Die Folgen dieser Entwicklung zu weniger qualifiziertem Personal spürte eine über 90-jährige Bewohnerin eines Zürcher Altersheims. Sie litt tagelang an Bauchweh. Die Pflegeperson verabreichte ihr Medikamente gegen Übelkeit. Nach einigen Tagen musste die Seniorin notfallmässig ins Spital eingeliefert werden. Dort stellte sich heraus, dass sie an Verstopfung litt. Wegen Verstopfung ins Spital eingeliefert: Viel Leid umsonst, weil bei der Pflege das medizinische Wissen fehlte.
Michael Simon, Professor am Institut für Pflegewissenschaften der Uni Basel, kommt in einer Studie von 2019 zum Schluss: «Viele Spitaleinweisungen aus Heimen und der ambulanten Langzeitpflege sind vermeidbar.» Das verursache unnötige Kosten von über 1,5 Milliarden pro Jahr. Geld, das sich mit mehr diplomierten Pflegefachpersonen einsparen liesse.
Auch in der Akutpflege von Spitälern käme gut qualifiziertes Pflegepersonal insgesamt günstiger. Dort würde das Einsparpotenzial 350 bis 500 Millionen Franken betragen, weil Patienten das Spital früher verlassen könnten. Zu diesem Resultat kommen Michael Simon und der Ökonom Michael Gerfin von der Uni Bern in ihrer neusten Studie. Die qualitativ bessere Pflege erhöht zudem die Sicherheit der Patienten: Bis zu 243 Todesfälle pro Jahr könnten laut den beiden Autoren der Studie vermieden werden.
Das Problem: Viele gut qualifizierte Pflegepersonen steigen frühzeitig wieder aus. Ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern sich laufend. Jüngstes Beispiel: Der Kanton Bern streicht den freiberuflichen Pflegefachpersonen Zusatzentschädigungen im Umfang eines Viertels ihres Lohns. Und: Die Schweiz bildet jedes Jahr 3000 diplomierte Pflegefachpersonen zu wenig aus. Das geht aus dem nationalen Versorgungsbericht des Bundesamts für Gesundheit und der kantonalen Gesundheitsdirektoren hervor. Grund: zu wenig Bewerber.
Im internationalen Vergleich beschäftigen die Schweizer Spitäler und Heime zwar leicht mehr Pflegepersonal als die Nachbarländer Deutschland und Frankreich. Aber mit 11,4 Pflegefachpersonen pro 1000 Einwohner steht die Schweiz etwa im Vergleich zu Norwegen mit 17,5 nicht besonders gut da.
“Diesen Tag werde ich nie mehr vergessen”
Was solche Zahlen heute in der Realität heissen können, zeigt die Erfahrung einer Pflegefachfrau. Sie arbeitete erst einen Monat an einer neuen Stelle in einem Spital und musste bereits die Tagesverantwortung für eine 12-Betten-Abteilung übernehmen. «Diesen Tag werde ich nie mehr vergessen», sagt sie dem K-Tipp. Ein Patient sei schreiend im Gang herumgelaufen. Ein anderer hatte ein Nierenversagen und zusätzlich einen Darmverschluss. Ein dritter Patient war zuckerkrank und hatte einen gefährlich tiefen Blutzucker.
Drei Patienten, die eine Betreuung durch hochqualifizierte Pflegerinnen benötigt hätten. Doch auf der Abteilung waren lediglich eine nicht dafür qualifizierte Kollegin aus einem anderen Fachgebiet, zwei «Fachangestellte Gesundheit» sowie zwei unerfahrene Medizinstudentinnen. Die Tagesverantwortliche war mit ihren Entscheiden auf sich alleine gestellt. «Ich war völlig überfordert», erinnert sie sich. Ihr Fazit: «Spitäler wollen das vorhandene Geld nicht für die Pflegenden einsetzen.»