Eigentlich wäre es die Aufgabe eines Apothekers, das passende Medikament auszuwählen, wenn ein Patient mit einem Rezept für ein Generikum zu ihm kommt. Aber in der Realität schreiben viele Ärztenetzwerke den Apothekern vor, welche Präparate sie ihren Patienten im Hausarztmodell geben sollen.
Beispiel: Patienten des Medix-Ärztenetzwerks Aargau erhalten vorzugsweise Generika-Cholesterinsenker der Firma Spirig Healthcare, Antidepressiva oder Blutdruckmittel der Firma Actavis sowie Mittel gegen Sodbrennen von Sandoz. Von diesen Einschränkungen erfahren die Patienten nichts. Sie wissen auch nicht, dass bis zu 25 Prozent des Preises, den sie in der Apotheke zahlen, zurück an das Ärztenetzwerk fliesst – eine Art Belohnung für die Verschreibung.
Das ist kein Einzelfall. Laut saldo-Recherchen verpflichten sich viele Ärztenetzwerke per Vertrag mit Pharmafirmen, Patienten im Hausarztmodell vorzugsweise gewisse Präparate abzugeben. Dafür erhalten die Netzwerke die Medikamente günstiger – die Patienten zahlen aber gleich viel. Der Generikahersteller Actavis bestätigt saldo, Netzwerken Rabatte bis 45 Prozent auf den Herstellerpreis zu geben. Laut Pharma-Insidern liegen sogar Rabatte bis 80 Prozent drin. Kein Beteiligter wollte auf Anfrage seinen Vertrag offenlegen.
Allein für Generika 150 Millionen Franken Rabatte
Und so funktionieren die Geldflüsse: Die Patienten und Krankenkassen zahlen den vollen Preis für die Medikamente. Die ausgehandelten Rabatte gehen laut Insidern zuerst an die Krankenkassen zurück, die dann bis zur Hälfte des Geldes hinter dem Rücken der Patienten ans Ärztenetzwerk weiterleiten. Die Kassen sprechen von Beiträgen zur ärztlichen Fortbildung.
Diese sogenannten Kickbacks gehen ins Geld – allein schon bei den Generika. Die Hersteller machten in der Schweiz im letzten Jahr 548 Millionen Franken Umsatz. Laut dem Chef eines Pharmaunternehmens flossen davon über 150 Millionen Franken als Rabatte zurück an Ärzte und Apotheker. Weitere Insider gehen von ähnlich hohen Zahlen aus. Ein Firmenchef erklärt: «Ohne Rabatte hätten wir hier keine Chance.» Grund: Nachahmerpräparate enthalten die gleichen Wirkstoffe – und sind damit austauschbar. So entscheidet der Preis. Oder der Rabatt an die Vertreiber.
Krankenkassen schneiden sich ein Stück vom Kuchen ab
Die offiziellen von den Patienten und Krankenkassen bezahlten Preise der Generika sind in der Schweiz laut Pharmaindustrie und Krankenkassen durchschnittlich gut 50 Prozent teurer als in Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Grossbritannien, Frankreich und Österreich. Da bleibt viel Raum für hohe Rückzahlungen.
Die Krankenkassen spielen das Spiel der Pharma, Ärzte und Apotheker mit. Sie argumentieren, dass die Ärzte dank Rabattvereinbarungen mehr günstige Generika statt teurer Originalpräparate abgeben und ein Teil der Rabatte bei den Kassen bleibt. Der Krankenkassenverband Santésuisse sagt, dass das Ärztenetzwerk von der so erzielten Kostenersparnis «auch etwas bekommen» soll.
Andreas Keusch, ehemaliger Pharmamitarbeiter, wirft Ärztenetzwerken und anderen Empfängern von Rückvergütungen «eine Zweckentfremdung von Prämiengeldern, die den Patienten gehören», vor. Anne Sybil Götschi von der Medix-Beschaffungsfirma Medsolution bestreitet das: Da ein Teil der Rabatte bei den Krankenkassen bleibt, könnten diese den Versicherten günstige Hausarztmodelle anbieten. Die Patienten würden zudem davon profitieren, weil die Netzwerke einen «grossen Teil» der erzielten Rabatte in ärztliche Fortbildungen steckten. Patienten zahlen also über die Medikamente die Weiterbildung von Ärzten mit. Kritiker bezweifeln deren Nutzen: «Das sind oft Kaffeekränzchen», sagt ein Apotheker. Zudem erhielten Ärzte Geld fürs Teilnehmen.
Der Bundesrat plant kein Verbot für Rabatte
In den Augen von Kritikern gefährden Rabattverträge überdies die Qualität der ärztlichen Behandlung. So warnt der Arzt Michel Romanens vom Verein Ethik und Medizin davor, dass Patienten «nicht mehr diejenigen Medikamente erhalten, die sie brauchen, sondern die, an denen der Arzt am meisten verdient». Götschi erwidert, Netzwerkärzte seien «frei» in der Wahl ihrer Medikamente.
Wer Rabatte einstreicht, muss keine Strafen fürchten. Laut dem Heilmittelgesetz müssten Ärzte und Apotheker «geldwerte Vorteile» transparent machen. Laut dem Krankenversicherungsgesetz müssten sie das Geld sogar an die Patienten weitergeben. Doch im Gesetz fehlt eine Strafandrohung. Die Behörden schauen tatenlos zu. Und der Bundesrat denkt nicht an eine Verschärfung: In seinem Entwurf zum neuen Heilmittelgesetz verpflichtet er Ärzte und Apotheker nur zur Offenlegung erhaltener Rabatte. Die Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit berät das Thema am 5. September.
Kickbacks: Pharmaunternehmen schweigen
Auch Spitäler, Apotheker und Apothekenketten streichen hinter dem Rücken der Patienten Rabatte ein:
- Laut Schweizerischem Heilmittelinstitut Swissmedic ist es «handelsüblich», dass Pharmafirmen Spitälern Arzneimittel bis zu 90 Prozent unter dem Herstellerpreis verkaufen. Die Kassen zahlen für diese Präparate, falls sie bei ambulanter Behandlung abgegeben werden, meist den vollen amtlich festgelegten Preis.
- Apotheker und Ärzte, die Medikamente selbst abgeben dürfen, erhalten von Herstellern bis zu 35 Prozent Rabatt auf kassenpflichtige Generika. Der Rabatt steigt oft mit dem Umsatz: Ein Apotheker berichtet saldo, dass Actavis ihm bei 10 000 Franken Umsatz 15 Prozent Rabatt angeboten hatte, bei über 30 000 Franken Umsatz 25 Prozent. Actavis will diese Aussage nicht kommentieren.
- Auch Hersteller von Originalpräparaten geben zeitweise Rabatt. Der US-Konzern Pfizer gewährte Apo- thekern laut Branchenkennern 30 Prozent Rabatt auf Sortis, kurz bevor das Patent Mitte 2012 ablief. Pfizer-Vertreter bieten Apothekern zudem bis zu 20 Prozent Rabatt auf Originale mit abgelaufenem Patent. Das schriftliche «Pfizer Rabattmodell» liegt saldo vor. Pfizer gibt dazu keine Auskunft.
- Apotheken der Galenica-Gruppe (Amavita, Sun Store und Coop-Vitality) verkaufen laut Stichproben vorzugsweise Sandoz-Generika (saldo 3/12). Grund: Infolge vertraulicher Vereinbarungen erhielten die Apotheken beim Verkauf von Sandoz-Generika Provisionen (saldo 5/10). 2012 machten die Rabatte laut Insidern bis 70 Prozent des Herstellerpreises aus. Sandoz und Galenica bestritten stets die Existenz von «Rabattverträgen». Insider sind sicher: «Auch heute gibt es Abmachungen.»
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