Dienstag, 15. August 2023: Um 10 Uhr fährt auf einem Bauernhof in Estavayer FR ein Auto der Kantonspolizei vor. Die Beamten begeben sich direkt in den Kuhstall. Dort treffen sie auf S.J., der gerade ausgemistet hat.
Der Kosovare hätte hier nicht arbeiten dürfen. Denn er hatte weder eine Arbeits- noch eine Aufenthaltsbewilligung und war somit ein sogenannter Sans-Papier. S.J. arbeitete und wohnte bereits seit 35 Jahren auf Schweizer Bauernhöfen – nicht nur während der Erntezeiten, sondern das ganze Jahr.
Das ist kein Einzelfall. Sans-Papiers sind wichtige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft in der Schweiz. Der Bundesrat schätzte ihre Zahl in einem Bericht von 2015 auf 3000 bis 6000. In der Schweiz gibt es knapp 50'000 Bauernhöfe. Das heisst: Im Durchschnitt leistet in jedem zehnten Betrieb ein Ausländer unangemeldet Schwarzarbeit.
Der heute 61-jährige S.J. war meist für die Stallarbeiten zuständig. Er melkte Kühe, versorgte Kälber und Rinder, gab den Tieren zu fressen und reinigte ihre Ställe. Normalerweise arbeitete J. von morgens um 5 Uhr bis abends um 19 Uhr, mit einer Stunde Mittagspause. Selbst samstags und sonntags musste er am Morgen und am Abend einige Stunden im Stall arbeiten. Ferien hatten ihm seine Arbeitgeber, alles Schweizer Bauern, in 35 Jahren kein einziges Mal bezahlt.
Der Netto-Stundenlohn von J. belief sich auf weniger als 8 Franken. Dank Leuten wie ihm konnten seine Arbeitgeber die Herstellungskosten von Milchprodukten, Fleisch und Käse tief halten.
«Ausbeutung ist gang und gäbe»
Philippe Sauvin von der Plattform für sozial nachhaltige Landwirtschaft sagt: «Diese ausbeuterischen Arbeitsbedingungen sind bei Sans-Papiers gang und gäbe, obwohl sie klar illegal sind.» Die Plattform beschäftigt sich seit Jahren mit den Anstellungsbedingungen auf Bauernhöfen in der Schweiz.
Ausländische Arbeitskräfte ohne geregelten Aufenthaltsstatus halten sich zwar illegal im Land auf. Dennoch geniessen sie laut Gesetz einen gewissen Schutz vor Ausbeutung.
Die Kantone schreiben im Normalarbeitsvertrag den Bauern einen minimalen Lohn von umgerechnet 15 Franken pro Stunde vor, den diese den Angestellten bezahlen müssen. Hinzu kommen Kinder- und Familienzulagen. Die Bauern müssen für Sans-Papiers auch Sozialversicherungsbeiträge einzahlen. So sind diese gegen Invalidität versichert und erhalten im Alter eine Rente. Bei Kündigungen müssen die Bauern eine angemessene Kündigungsfrist einhalten.
Doch das ist Theorie. In der Realität können Sans-Papiers auf Schweizer Höfen von solchen Anstellungsbedingungen nur träumen. Bloss einzelne der 15 Bauern, bei denen S.J. arbeitete, bezahlten ihm für seine fünf im Kosovo lebenden Kinder Familien- oder Kinderzulagen.
Ab 2010 bekam er keine dieser Zulagen mehr, obwohl seine jüngeren Kinder noch im Grundschulalter waren. Einige Bauern zahlten nicht einmal AHV/IV-Beiträge ein. Das zeigen Arbeitsverträge, die dem K-Tipp vorliegen. Einer der Bauern zog J. sogar Quellensteuer vom Lohn ab, ohne dass der Arbeiter in der Gemeinde angemeldet war. Wurde er krank, erhielt er keinen Lohn. Auch das ist gesetzeswidrig.
Bundesrat lehnt besseren Schutz ab
Dem Bundesrat sind die prekären Arbeitsbedingungen von Sans-Papiers bekannt. Eine vom Bund in Auftrag gegebene Studie kam 2015 zum Schluss: «In der Schweiz werden Menschen um ihrer Arbeit willen ausgebeutet.» Das gelte auch für die Landwirtschaft. Dennoch beurteilte der Bundesrat fünf Jahre später in einem weiteren Bericht das heutige System als «angemessen». Er lehnt es ab, Sans-Papiers mit neuen Regeln besser vor Ausbeutung zu schützen.
Kantone büssen Bauern kaum
Eine Umfrage des K-Tipp bei zwölf grossen Kantonen der Deutschschweiz und der Romandie zeigt: Bauern haben wenig zu befürchten, wenn sie Ausländer schwarz anstellen. Nur acht der zwölf Kantone äusserten sich zur Frage, ob Bauern wegen Schwarzarbeit gebüsst werden: Basel-Landschaft, Bern, Fribourg, Graubünden, Solothurn, Thurgau, Waadt und Zürich. Die acht Kantone sprachen zusammen weniger als 20 Bussen aus. Im Durchschnitt betrugen die Bussen unter 500 Franken.
Im Wallis und im Aargau wissen die Behörden angeblich nicht, ob sie Bauern wegen Schwarzarbeit büssten. St. Gallen und Luzern beantworteten die Fragen des K-Tipp nicht.
Ungleich härter gehen die Behörden gegen illegal beschäftigte Arbeiter vor, die bei Kontrollen auffliegen: Diese werden des Landes verwiesen. So erging es auch S.J.. Während 35 Jahren führte er in der Schweiz als Billigarbeitskraft ein Schattendasein. Nach der Polizeikontrolle musste er das Land umgehend verlassen.
Letzten Lohn nicht erhalten
Den letzten Lohn von J., rund 2000 Franken, zahlte ihm der Bauer nicht mehr aus. Die Begründung: Er müsse noch die Busse zahlen, die er wegen Schwarzarbeit erhielt. J. erzählt dem K-Tipp: «Der Bauer jagte mich wie einen Hund vom Hof. Er sagte: ‹Morgen bist du weg von hier.›»
Sans-Papiers: Der Detailhandel bleibt untätig
Händler und Grossverteiler interessieren sich kaum dafür, dass Bauern mit prekären Anstellungsbedingungen gegen Schweizer Recht verstossen. Auf Anfrage des K-Tipp verurteilten Aldi, Coop, Denner, Lidl, Migros und Volg zwar Schwarzarbeit und schlechte Arbeitsbedingungen. Doch die Grossverteiler beantworteten die Frage nicht, ob sie von ihren Lieferanten verlangen, gegen die Ausbeutung von Sans-Papiers vorzugehen.
Nur die deutsche Konzernzentrale von Lidl führte wegen bekannt gewordener Lebensbedingungen von Sans-Papiers in Gemüsetreibhäusern in Südspanien ein Meldesystem ein.
Dort können sich Betroffene anonym beschweren. Wenn sich die Vorwürfe bestätigen, will Lidl dafür sorgen, dass der angeschuldigte Arbeitgeber die Missstände beendet oder «minimiert».