Wer in der Schweiz mit der Bahn reist, konnte sich bisher im Fernverkehr auf eines verlassen: Auf den Hauptstrecken fährt jede halbe Stunde ein Zug, auf Nebenlinien mindestens ein Zug jede Stunde. Der sogenannte Taktfahrplan gilt seit der landesweiten Einführung im Jahr 1982 als Erfolgsmodell.
Doch nun zeigen Recherchen des K-Tipp: Die SBB bauen den Halbstundentakt schleichend ab. Sie verschleiern das, um Aufsehen zu vermeiden. So betitelten die SBB eine Mitteilung von Mitte Mai mit «Fahrplanentwurf 2023 – Mehr Direktverbindungen in Tourismusregionen». In der Mitteilung hiess es beiläufig: «Zwischen Zürich und Arth-Goldau wird nachfragebedingt auf einzelne Verbindungen in der Nebenverkehrszeit verzichtet.»
Erst auf Anfrage des K-Tipp gaben die SBB konkret an, dass sie ab Dezember 2022 folgende Verbindungen streichen: die Züge von Arth-Goldau nach Zürich Hauptbahnhof mit Abfahrt um 10.45, 12.45 und 14.45 Uhr. Letzterer soll noch im Sommer und nur sonntags fahren. In der Gegenrichtung – von Zürich HB nach Arth-Goldau – streichen die SBB die Verbindungen um 12.33 und 14.33 Uhr. Letzterer verkehrt neu nur noch an Freitagen im Sommer.
Kanton Schwyz wehrt sich gegen Abbau
Die betroffenen Verbindungen sollen eigentlich den Taktfahrplan aufrechterhalten – also für eine halbstündige Verbindung zwischen den zwei Bahnhöfen sorgen. Markus Meyer, Leiter des Amts für öffentlichen Verkehr im Kanton Schwyz, protestiert gegen den Abbau: «Schwyz wehrt sich gegen die Streichung von Fernverkehrszügen. Wir sind bei den SBB und dem Bundesamt für Verkehr vorstellig geworden, damit die Pläne rückgängig gemacht werden.» Denn der Halbstundentakt sei vom Bund für die Strecke Arth-Goldau–Zürich auf der Gotthardlinie in der Fernverkehrskonzession vorgeschrieben.
Die SBB wollten den Fahrplan auch im St. Galler Rheintal ausdünnen. Im Mai informierten sie regionale Behördenvertreter, dass sie den auf Dezember 2024 geplanten Halbstundentakt zwischen St. Gallen und Sargans «nachfrageorientiert» einführen werden – also nur dann, wenn die Züge gut ausgelastet und damit rentabel sind.Doch der Doppelspurausbau im Rheintal samt Halbstundentakt war bereits 2013 von National- und Ständerat beschlossen worden. Für den Ausbau sollen 250 Millionen Franken ausgegeben werden.
Erst als die betroffene Bevölkerung massiv protestierte, pfiff Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga die SBB vergangenen Juni zurück. Jetzt sagen die Bundesbahnen, man habe sich mit dem Kanton St. Gallen darauf geeinigt, «den Halbstundentakt ab Dezember 2024 wie ursprünglich geplant einzuführen».
SBB prüfen weitere Streichungen
Trotzdem: Die SBB prüfen, ob sie auf weiteren Fernverkehrslinien den Halbstundentakt ausdünnen und weitere Züge streichen können. Das erfuhr der K-Tipp von mehreren Mitarbeitenden am Hauptsitz Bern. Intern sorge dies für rote Köpfe und heftige Diskussionen: «Wir stehen beim Fernverkehr an einer Wegscheide», bestätigt ein ranghohes Kadermitglied gegenüber dem K-Tipp.
Auch bei Bahnexperten stossen die Abbaupläne der SBB auf Kritik. Kaspar P. Woker arbeitete jahrelang als Chef des Bahnreiseveranstalters Railtour Suisse und ist heute Mitglied von Pro Bahn, der Interessenvertretung der Kundinnen und Kunden im öffentlichen Verkehr. Er hält die Pläne der SBB für «brandgefährlich»: «Ein durchlöcherter Taktfahrplan verärgert Reisende und führt dazu, dass Leute wieder vermehrt auf das Auto umsteigen.»
Die SBB bestreiten auf Anfrage den Angriff auf den Taktfahrplan und schreiben, sie würden «auch weiterhin zum Halbstundentakt stehen». Es sei aber nachhaltiger und kundengerechter, wenn das Angebot zu den Zeiten ausgebaut werde, an denen auch die Nachfrage vorhanden sei und die Züge nicht grösstenteils leer verkehren würden. So fahre neu von Montag bis Freitag um 6.45 Uhr ein zusätzlicher Zug die Strecke Arth-Goldau–Zürich. Und zwischen der Deutschschweiz und dem Tessin gebe es am Wochenende zusätzliche Verbindungen. Allerdings: Diese verkehren teilweise nur während des Sommerfahrplans von April bis Oktober.
Beim Bundesamt für Verkehr zeigt man sich überrascht über das Vorgehen der SBB, wie Sprecher Michael Müller auf Anfrage sagt: «Solche systematischen Ausdünnungen des Fahrplans würden eine Anpassung der Konzession bedingen, die das Bundesamt bewilligen muss. Wir haben die SBB darauf aufmerksam gemacht und sie aufgefordert, ein entsprechendes Gesuch um Anpassung der Fernverkehrskonzession einzureichen.» Bis Mitte August habe noch kein solches Gesuch vorgelegen.
Die Südostbahn hat als Konkurrentin der SBB bereits früher Strecken übernommen, welche die Bundesbahn nicht mehr selber betreiben wollte, zum Beispiel am Gotthard. Eine allfällige Übernahme des Halbstundentakts auf der Strecke Arth-Goldau–Zürich hat die Südostbahn bisher noch nicht geprüft.