Steigen Sie am nächstgrösseren Bahnhof um und vertreiben sich die Wartezeit bis zum nächsten Zug mit dem Besuch von Läden? Dann werden Sie künftig überwacht: Ab September 2023 werten die SBB nicht nur jeden Schritt der Reisenden aus, sondern auch, in welchen Läden diese wie viel Geld ausgeben: So steht es im Beschaffungsplan «KundenFrequenzMessSystem 2.0», der dem K-Tipp vorliegt. «Ziel ist es, Daten in hoher Qualität zu beschaffen, mit denen Personenbewegungen an Bahnhöfen analysiert werden können.»
Auch Einkaufsdaten werden ausgewertet
Die SBB wollen dafür neue Kameras mit Gesichtserfassung installieren. Diese werten mit speziellen Programmen die Bewegungen aller Bahnhofbesucher aus. Brisant: «Durch die Verknüpfung der Personenbewegungsdaten mit Daten aus anderen Quellen, wie Fahrgastdaten, kann Auskunft über das Verhalten von Bahnhofsbesuchen gegeben werden», heisst es im Projektbeschrieb.
Bereits heute filmen die SBB mit über 700 Kameras die Passantenströme in den Bahnhöfen – ohne aber das Kaufverhalten auszuwerten und mit Fahrgastinformationen wie zum Beispiel den Daten des «Swisspass» zu verknüpfen. Die SBB schreiben den Lieferanten vor, ab September folgende Daten zu erfassen und auszuwerten:
- Auf welchem Weg Reisende durch den Bahnhof laufen.
- Alter, Geschlecht, Grösse, mitgeführtes Gepäck und Gegenstände wie Kinderwagen, Rollstuhl oder Velo.
- Wie lange sich Reisende im Bahnhof aufhalten.
- Welche Läden von Passagieren besucht werden.
- Das Kundenverhalten in Bahnhofsläden.
- Wie viel Geld die Passagiere am Bahnhof in Apotheken, Lebensmittelläden, an Kiosken etc. ausgeben.
- Bewegungsdaten werden mit den Daten der Ladenkassen verknüpft.
Das Ziel der Überwachung formulieren die SBB in ihren Papieren so: Die «Abschöpfungsrate» pro Reisenden soll erhöht werden. Denn je mehr Umsatz die Ladenbetreiber im Bahnhof machen, desto mehr Miete müssen sie den SBB zahlen.
57 Bahnhöfe erhalten neue Videokameras
Zuerst wollen die Bundesbahnen den Bahnhof in Schaffhausen aufrüsten. Dort werden Kameras ab September das Verhalten der Passagiere erfassen und auswerten. Die SBB halten fest: «Im Endausbau sollen zirka 57 Bahnhöfe komplett ausgerüstet sein und zusätzliche Daten bereitgestellt werden.» Die Verträge mit Software- und Kameralieferanten zur Massenüberwachung wollen die SBB mit einer Dauer bis mindestens August 2028 abschliessen – verlängerbar bis 2033.
Die SBB schreiben in ihrem Projektbeschrieb, dass in Zukunft nicht nur Mitarbeiter der SBB-Immobilien die aufgezeichneten Bewegungsprofile der Reisenden bequem im Internet abrufen können. Auch die Betreiber von Bahnhofsläden sollen Zugang zu den Daten erhalten.
SBB-Kunden sind diesen Spionageaktivitäten hilflos ausgeliefert. Denn die neuen Kameras werden von blossem Auge nicht erkennbar sein: «Die Installation der Messtechnik erfolgt visuell möglichst dezent. Es soll die Möglichkeit bestehen, die Messgeräte unter Putz zu montieren.» Im Klartext: Die Kameras sollen versteckt installiert werden. Die Daten wollen die SBB in der Cloud von Microsoft speichern – also im Internetspeicher des US-Konzerns.
Die Bahn schreibt ihren Lieferanten vor, dass sie die Personendaten anonymi- sieren müssen, um das Datenschutzgesetz einzuhalten. «Die SBB können mit den anonymisierten Zähldaten den Service für die Kunden verbessern», schreibt die Pressestelle dem K-Tipp und verspricht, es seien «keinerlei Rückschlüsse auf einzelne Personen möglich». Und: Die Informationen der Ladenkassen würden nur «allgemein genutzt» – das Einkaufsverhalten werde nicht mit den Daten des «Swisspass» oder der SBB-App verknüpft.
Diese Aussagen stehen im Widerspruch zu den Ausschreibungsdokumenten: Darin verlangen die SBB von den Kamerabetreibern explizit eine «eindeutige Identifikation der Person (Person-ID), während des gesamten Aufenthalts im Bahnhof». Gemäss Datenschutzgesetz müssten Reisende der Verarbeitung ihrer Daten ausdrücklich zustimmen.
«Erhebliches Risiko» für die SBB-Kunden
Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger kannte die SBB-Überwachungspläne seit letztem Herbst und verlangte eine Datenschutz-Folgenabschätzung. Die Details des Beschaffungsprogramms erfuhr er durch den K-Tipp. Aufgrund der «Vielzahl der erhobenen Daten und des und des Risikos einer Re-Identifikation von Personen» bestehe ein «erhebliches Risiko für die Persönlichkeit der Passanten», schreibt sein Mediendienst zur geplanten SBB-Überwachung.
Hier werden Reisende bereits heute überwacht
Schon heute analysieren die SBB an zahlreichen grösseren Bahnhöfen die Bewegungsdaten der Reisenden – und das ohne Wissen ihrer Kunden:
- Aarau, Baden, Biel, Bellinzona, Chur, Freiburg, Neuenburg, Olten, Lugano, Lausanne, St. Gallen, Olten, Thun, Uster, Zug. Zürich: Altstetten, Enge, Hardbrücke.
Hier speichern Kameras, an welchen Läden Reisende vorbeilaufen:
- Basel SBB, Bern, Genf, Genf Flughafen, Luzern, Winterthur. Zürich: HB, Oerlikon, Stadelhofen.