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20.11.2019
Am 29. Juli stiessen in Granges-près-Marnand VD zwei Regionalzüge zusammen. Ein Lokomotivführer wurde getötet, 26 Personen verletzt. Am nächsten Tag verkündete SBB-Chef Andreas Meyer: «Wir haben kein grosses Sicherheitsproblem.» Einiges deutet darauf hin, dass er sich irrt. Rückblenden:
- 8. August 2011, Döttingen AG: Ein Regionalzug und eine Güterlokomotive stossen zusammen. 22 Verletzte. Ein Lokführer hatte ein Rotlicht überfahren.
- 6. Oktober 2011, Olten SO: Zusammenstoss von zwei Personenzügen. Zwei Verletzte. Rotlicht überfahren.
- 12. Dezember 2012, Lenzburg AG: Zusammenstoss eines Güter- und eines Regionalzugs. Vermutlich Rotlicht überfahren.
- 10. Januar 2013, Neuhausen SH: Zusammenstoss zweier Personenzüge. 26 Verletzte. Rotlicht überfahren.
- 27. Februar 2013, Basel, Badischer Bahnhof: Zusammenstoss einer Lok und eines Güterzugs.Rotlicht überfahren.
- 29. Juli 2013, Granges-près-Marnand VD: 1 Toter, 26 Verletzte. Rotlicht überfahren.
Noch vor dem letzten Unfall im Waadtland hatte Meyer dem Schweizer Radio gesagt: «Wir haben keinen eigentlichen roten Faden gefunden.» Dabei hat der «rote Faden» sogar einen Namen: Signum. Dieses Sicherheitssystem wurde vor 80 Jahren entwickelt. Es bremst den Zug, wenn er ein Rot-licht überfahren hat – das ist häufig bereits zu spät.
Neueres System, mehr Sicherheit
Folgerichtig schrieb die Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle denn auch zum Unfall in Basel: «Es handelt sich seit Döttingen um den vierten Fall, in dem eine zeitgemässe Zugsicherung einen schweren Unfall verhindert hätte.» Lenzburg und Granges-près-Marnand noch nicht eingerechnet.
Eine zeitgemässe Zugsicherung gäbe es schon lange: das Zugbeeinflussungssystem (ZUB). Es kann Züge rechtzeitig stoppen. Doch seit 1992 wurde nicht einmal ein Drittel der Signale auf dem SBB-Netz so ausgerüstet. Jetzt soll es schneller gehen. Bis 2016 sollen für 50 Millionen Franken weitere 1700 ZUB installiert werden. Dann hat noch immer weniger als die Hälfte der Signale das ZUB.
Bahnexperten fordern ZUB für alle Signale
Bahnexperten verlangen deshalb, dass das ZUB flächendeckend installiert wird. Das würde etwa 250 Millionen Franken kosten. Diesen Betrag könnten die SBB aus dem Unternehmensgewinn eines Jahres decken. Zur Erinnerung: 2012 belief sich der Konzerngewinn auf 423 Millionen Franken, ein Jahr zuvor auf 339 Millionen. Doch das Bundesamt für Verkehr sagt: «Ausgerüstet werden diejenigen Abschnitte, bei denen ein erhöhtes Risiko besteht.» Als ob man wüsste, wo der nächste Unfall passiert. Und weiter heisst es: «Mit dem Geld kann in anderen Bereichen wie der Sanierung von Bahnübergängen ein grösserer Sicherheitsgewinn erzielt werden.»
Mitspielen dürfte auch, dass das ZUB nur eine Zwischenlösung ist. Die Verantwortlichen träumen vom European Train Control System (ETCS). Zunächst sollen die Anlagen mit 300 Millionen Franken dem europäischen Standard angepasst werden (ECTS 1). Das vereinfacht den grenzüberschreitenden Verkehr, bringt zunächst aber nicht mehr Sicherheit. Später sollen die Signale nicht mehr an der Strecke stehen, sondern im Führerstand angezeigt werden (ECTS 2). Zudem wird das System die Geschwindigkeit des Zuges ständig überwachen. Kosten: 1,2 bis 2 Milliarden Franken.
Bereits installiert ist ECTS 2 zwischen Mattstetten BE und Rothrist AG, im Lötschberg-Basistunnel und zwischen Solothurn und Wanzwil BE.
Laut Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr, funktioniert es auf offener Strecke gut. Doch in Bahnhöfen und anderen Bereichen mit vielen Weichen sei es noch nicht erprobt. Zudem müsse die Einführung mit der EU abgestimmt werden. Deshalb wird ECTS 2 wohl erst zwischen 2025 und 2035 installiert.
Die Ursache für die Sicherheitsprobleme dürfte allerdings nicht nur die veraltete Technik sein, sondern auch der Stellenabbau. Früher waren für den Abfahrtsbefehl Lokführer, Stationsvorstand und Kondukteur verantwortlich. Heute ist der Lokführer im Regionalverkehr allein und trägt deshalb auch die ganze Verantwortung.
70 Millionen Franken für Werbung und PR
Die SBB weisen auf Anfrage des K-Tipp darauf hin, dass «die Bahn den Statistiken zufolge zu den sichersten Transportmitteln gehört». Die Sicherheit sei «oberstes Gebot». Alle Signale seien «mindestens mit der Sicherung Signum ausgerüstet». Zur Erinnerung: Signum greift zu spät ein.
Umso mehr erstaunt, wie die SBB ihr Geld investieren: etwa in Lounges inkl. Gratisgetränken für 1.-Klass-GA-Besitzer. In Büros, die Geschäftsleute stundenweise mieten können. Oder auch in Werbekampagnen wie «Unterwegs zu Hause».
Zu den Kosten dieser Projekte wollten die SBB keine Auskunft geben. Trotzdem eine Zahl: Allein für Werbung und PR gaben sie letztes Jahr fast 70 Millionen Franken aus.
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