Zürich Hauptbahnhof, Bahnhofshalle, 17 Uhr: Zu beobachten ist eine lange Warteschlange, einige Leute sitzen auf Koffern, andere am Boden. Die Bahnkunden stehen nicht etwa am Billettschalter an, sondern am Automaten, wo sie ihr Warteticket erhalten. Ein SBB-Angestellter sagt zu den Wartenden: «Eine Stunde müssen Sie rechnen.» Das sei zurzeit «Standard nach Feierabend».
Der K-Tipp hat im September an Billettschaltern in zwölf Bahnhöfen die Wartezeiten gemessen – insgesamt 216 Mal. Die Stichproben wurden jeweils zur Stosszeit am Morgen und am frühen Abend sowie am Nachmittag und am Wochenende durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse:
An den SBB-Schaltern in Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich müssen Bahnkunden sehr lange warten. Am Hauptbahnhof Zürich etwa warteten die Testpersonen bis zu 71 Minuten. In mittelgrossen Städten wie Aarau, Freiburg, Schaffhausen und Winterthur ZH betrug die Wartezeit bis 33 Minuten. An kleinen Bahnhöfen geht es schneller: In Glarus, Thalwil ZH und Weinfelden TG wartete der K-Tipp höchstens 9 Minuten.
Am längsten sind die Wartezeiten am frühen Abend zwischen 16.30 und 18 Uhr. Um diese Zeit mussten sich die Testpersonen in Zürich im Durchschnitt rund 64 Minuten, in Bern 37 und in Lausanne sowie Winterthur 24 Minuten gedulden (siehe Tabelle im PDF).
Selbst bei grossem An-drang öffneten die SBB nur einen Teil der Schalter. In Zürich waren abends zur Stosszeit höchstens 15 von 31 Schaltern offen, also weniger als die Hälfte. In Bern waren maximal 14 von 19 Schaltern geöffnet, in Lausanne maximal 11 von 16 Schaltern.
Die tatsächlichen Wartezeiten waren fast immer länger als die Zeiten, die im Wartebereich auf den Bildschirmen eingeblendet waren. In Winterthur etwa gaben die SBB abends die voraussichtliche Wartezeit mit «über 10 Minuten» oder «über 15 Minuten» an. Effektiv warteten die Testpersonen zwischen 16 und 33 Minuten.
«Solche Wartezeiten sind nicht akzeptabel»
Karin Blättler vom Verband Pro Bahn kritisiert: «Solche Wartezeiten sind nicht akzeptabel.» Die Politik wolle, dass mehr Leute vom Auto auf den Zug umsteigen. Dafür brauche es einen guten Service: «Doch mit den extremen Wartezeiten vergrault man die Kunden.»
Zahlen der SBB belegen: Es gibt immer weniger Schalterpersonal – seit 2017 wurden an den Bahnschaltern viele Stellen abgebaut. Auch die Zahl der bedienten Bahnhöfe sinkt ständig: 2002 hatten noch 334 SBB-Bahnhöfe einen Billettschalter – heute sind es mit 142 weniger als die Hälfte (K-Tipp 15/2022).
Die SBB erklärten gegenüber dem K-Tipp, von den Schalterschliessungen an kleinen Bahnhöfen würden die grossen Bahnhöfe profitieren: Werde an kleinen Bahnhöfen Personal frei, könne man mehr Mitarbeiter an grossen Bahnhöfen einsetzen (K-Tipp 15/2022).
Tatsache ist aber: Die Wartezeiten an grossen Bahnhöfen haben sich nicht verkürzt, sondern verlängert. Bei einer Stichprobe im Jahr 2012 warteten die Testpersonen am Hauptbahnhof Bern höchstens 17 Minuten (K-Tipp 18/2012). Bei der aktuellen Stichprobe waren es in Bern bis zu 51 Minuten – also dreimal so lang.
Tipps: So verkürzen Sie die Wartezeit
- Termin reservieren:An 57 grossen und mittelgrossen Bahnhöfen können Reisende einen 30-minütigen Beratungstermin am SBB-Schalter reservieren. Einen Termin buchen kann man im Internet auf SBB.ch.
- Am Morgen an den Schalter: Von 6.30 bis 8 Uhr steht man weniger lang an als nach Feierabend von 16.30 bis 18 Uhr. Das war in der Stichprobe an 11 von 12 Bahnhöfen der Fall. Der Gang zum Schalter lohnt sich auch am Nachmittag im Vergleich zur Stosszeit am Morgen nicht. Denn am Nachmittag sind meistens weniger Schalter geöffnet.
«Wir verfehlen unsere Ziele»
Der K-Tipp konfrontierte die SBB mit den Ergebnissen der Stichprobe an Bahnschaltern. Andreas Kaufmann, Leiter Vertriebsgebiete der SBB, nimmt Stellung.
K-Tipp: Die durchschnittliche Wartezeit am Bahnschalter beträgt am frühen Abend im Hauptbahnhof Zürich über eine Stunde. Ist das nicht eine Zumutung für die Kunden?
Andreas Kaufmann: Unser Ziel ist, dass wir im Jahresdurchschnitt 80 Prozent der Kunden innert zehn Minuten bedienen. Dieses Ziel verfehlen wir zurzeit und damit sind wir nicht zufrieden. Aktuell kommen sehr viele Kunden für internationale Reisen in unsere Reisezentren – viel mehr als in den Jahren vor Corona. Wir reagieren darauf: 2023 werden wir die grossen Reisezentren um 14 Stellen verstärken.
14 zusätzliche Stellen für die Bahnschalter in mehreren Städten – das wird die Wartezeit nicht merklich verringern Für die Bahnkunden ist es unverständlich, dass oft nicht einmal die Hälfte der Schalter geöffnet ist.
Ich verstehe, dass das irritiert. Deshalb verstärken wir das Angebot dort, wo die Nachfrage gross ist. Doch das Kundenaufkommen innerhalb eines einzigen Tages ist schwer planbar und kann stark schwanken. Wir versuchen, die Einsatzpläne den Erfahrungen anzupassen: Wir öffnen etwa am Abend weitere Schalter. Stehen aber plötzlich am Morgen viele Kunden an, können wir nicht immer adäquat reagieren.
Die SBB schliessen laufend Bahnschalter und wollen, dass die Kunden ihre Billette an Automaten und mit dem Handy kaufen. Das zunehmende Kundenaufkommen an den Schaltern zeigt doch, dass die SBB an den Kundenbedürfnissen vorbei plant.
Die SBB schliesst dort Reisezentren, wo die Nachfrage stark rückläufig ist. Viele Kunden wollen internationale Reisen buchen. Sie kommen ins Reisezentrum, weil wir im Internet nicht für alle Destinationen eine gute Buchungsplattform haben. Sobald wir das gelöst haben, wird das Kundenaufkommen in Reisezentren zurückgehen.