Anfang August teilten die SBB mit: «Die Corona-Krise verzögert die Lokführerausbildung.» Es komme deshalb zu «vereinzelten Anpassungen im Fahrplanangebot». Das tönt harmlos. Doch K-Tipp-Recherchen zeigen: Seit August fallen in der Schweiz jeden Tag über 120 SBB-Züge aus. Besserung ist nicht in Sicht. Die SBB streichen zurzeit am meisten fahrplanmässige Züge in den Kantonen Genf, Waadt und Zürich. Beispiele:
Auf der S42 zwischen Zürich und Muri AG verkehren täglich 14 Züge weniger (siehe Grafik im PDF). Diese Züge fallen dann aus, wenn der Andrang am grössten ist: zwischen 5.20 und 8.30 Uhr sowie zwischen 15.40 und 18.40 Uhr.
Auf der S21 zwischen Zürich und Regensdorf ZH werden am Abend zwischen 16.40 und 19 Uhr zehn Züge gestrichen. Diese Ausfälle dauern gemäss SBB mindestens bis Anfang September.
Pendler auf der Strecke Luzern–Zürich müssen sich gar bis zum Fahrplanwechsel im Dezember auf überfüllte Züge und Stehplätze gefasst machen: Die SBB lassen jeweils am Morgen und am Abend einen Zug ausfallen. Auch hier streichen die Bundesbahnen ausgerechnet dann Züge, wenn am meisten Leute unterwegs sind.
Am Genfersee verkehren zwischen 5 Uhr morgens bis nach Mitternacht sogar nur noch die Hälfte der S-Bahn-Züge zwischen Genf und Coppet VD. Bis auf weiteres gilt auf der vielbenutzten Pendlerstrecke der Halb- statt der Viertelstundentakt. 80 Züge werden gestrichen.
Ebenfalls auf Zugsausfälle gefasst machen müssen sich Bahnkunden im Wallis. Gemäss SBB-Sprecher Daniele Pallecchi «ist es möglich», dass Interregios zwischen Genf und Brig ausfallen. Konkret heisst das: Ob der Zug fährt oder nicht, erfahren die Reisenden erst kurzfristig auf dem Gleis oder im Internetfahrplan.
In der Medienmitteilung brüsten sich die SBB damit, dass die Rekrutierung von Lokpersonal intensiviert worden sei: «Die aktuellen Ausbildungsklassen sind nahezu voll besetzt.» Ab Herbst seien rund 340 Lokführer gleichzeitig in Ausbildung. Allerdings bleibe der Bestand «trotz dieser Offensive» vorerst knapp. Denn das Coronavirus verzögere die Ausbildung, weil weniger Personen gleichzeitig im Führerstand ausgebildet werden könnten.
Bahnintern heisst es, Corona sei nur eine faule Ausrede. Deutliche Worte dazu findet Hubert Giger, Präsident des Verbands Schweizer Lokomotivführer und Anwärter: «Seit 2015 haben wir das SBB-Management auf den Lokführermangel und auf drohende Zugsausfälle aufmerksam gemacht. Aber unsere Warnungen wurden jahrelang zu wenig ernst genommen.»
«Jeden Tag fehlen 120 bis 150 Lokführer»
Dies bestätigt Hansruedi Schürch vom Lokpersonalverband LPV-SEV. Er sagt: «Landesweit fehlen den SBB jeden Tag zwischen 120 und 150 Lokführer, um alle Züge fahren zu können.» Lokführer Schürch befürchtet, dass die SBB noch monatelang zu wenig Personal im Führerstand haben, da jedes Jahr 100 pensioniert werden.
Inzwischen suchen die SBB händeringend nach Lokführern, die an ihren freien Tagen einspringen und fahrplanmässig vorgesehene Züge fahren. So berichten Lokführer, dass sie laufend per Telefon oder SMS für Zusatzfahrten angefragt werden. Laut Lokführerverband bezahlen die SBB als Motivation für die freiwilligen Zusatzeinsätze 100 Franken Prämie.
SBB-Sprecher Pallecchi sagt dazu: «Das Problem ist schon lange erkannt.» Laut SBB kann aber erst ab Mitte 2021 «mit einer deutlichen Entspannung gerechnet» werden. Das bedeutet: Pendler müssen mindestens noch fast ein Jahr lang mit Zugsausfällen leben. Aktuell schreiben die SBB von «weiteren Angebotsanpassungen, die aktuell geprüft» werden. Im Klartext: Möglicherweise fallen in den nächsten Wochen noch mehr als 120 Züge täglich aus.
Mit diesen Zugsausfällen verstossen die SBB gegen ihren gesetzlichen Auftrag. Denn gemäss dem Personenbeförderungsgesetz sind die Unternehmen «verpflichtet, alle in den Fahrplänen enthaltenen Fahrten durchzuführen».
Dennoch haben die Ausfälle für die SBB keine Folgen. Aufsichtsbehörde ist das Bundesamt für Verkehr. Dieses beschwichtigt auf Anfrage des K-Tipp: Es handle sich um Züge, die aufgrund der Corona-Pandemie im Frühling eingestellt worden seien – und einfach noch nicht wieder eingeführt würden. «Das heisst, es herrscht noch nicht wieder Normalbetrieb», sagt ein Sprecher. Eingreifen werde das Bundesamt vorerst nicht. Allerdings erwarte man, dass die SBB die fahrplanmässigen Angebote «so rasch wie möglich wieder aufnehmen».