Bundesrätin Karin Keller-Sutter kann sich Schweizer Markenkleider leisten. Sie trägt Kleider des St. Galler Luxuslabels Akris, wie sie dem «Magazin» des «Tages-Anzeigers» Ende November verriet. Für einen Kaschmirmantel zum Beispiel verlangt das Modehaus 6490 Franken – ein kleines Vermögen.
Auch andere Modelabels, die in der Schweiz produzieren, verkaufen ihre Kleider zu stolzen Preisen. So verlangt der Unterwäschehersteller Zimmerli, der mit «made in Switzerland» wirbt, für sein Nachthemd «Sea Island Langarm» 299 Franken. Und das Modehaus Bally verkauft seine «Plume Mokassins» aus schwarzem Leder für 820 Franken.
Den angestellten Schneiderinnen und Näherinnen kommen die hohen Preise in den Läden nicht zugute. Akris stellt in St. Gallen Schneiderinnen mit abgeschlossener Berufslehre im Stundenlohn von 20 Franken brutto an, wie aus einem Arbeitsvertrag hervorgeht. Gleichzeitig wird von den Angestellten maximale Flexibilität erwartet. Vor den Modeschauen müssen sie Überstunden leisten. Da sei es auch schon zu einer 60-Stunden-Woche gekommen, sagt dem K-Tipp eine ehemalige Mitarbeiterin.
Tessin: Akris unter dem Mindestlohn
Akris beschäftigt rund 1500 Angestellte, 400 von ihnen in der Schweiz. Der Textilhersteller produziert in St. Gallen, im Tessin und in Rumänien. Im Tessin bezahlt das Unternehmen noch weniger als in St. Gallen: mickrige Fr. 17.50 brutto pro Stunde. Das entspricht einem Monatslohn von rund 3000 Franken.
Akris schreibt dazu, man bezahle «branchenübliche, minimale» Anfangslöhne für Bekleidungsgestalterinnen. Erfahrene Schneiderinnen und Näherinnen erhielten Löhne «analog den administrativen Bereichen».
Mit einem Stundenlohn von Fr. 17.50 unterschreitet Akris im Tessin sogar den kantonalen Mindestlohn von Fr. 19.75 klar – erstaunlicherweise mit dem Segen der Gewerkschaften Unia Tessin und christlich-soziale OCST: Sie handelten mit dem Tessiner Verband Ticinomoda einen Kollektivvertrag aus. Damit kommt der kantonale Mindestlohn nicht zur Anwendung.
Unia Tessin schreibt da-zu, manchmal müsse man sich auf Kompromisse einlassen. Die Löhne seien in den letzten Jahren angehoben worden. Im Jahr 2017 habe der Mindestlohn noch Fr. 14.50 betragen. Heute gebe es zudem einen 13. Monatslohn. Die Gewerkschaft OCST nahm nicht Stellung.
Auch andere Modehäuser nutzen die Tatsache aus, dass im Tessin viele Grenzgänger aus Italien arbeiten. Das Modelabel Zimmerli stellt dort hochpreisige Nacht- und Unterwäsche her. Selbst Näherinnen, die 20 oder mehr Jahre für das Unternehmen tätig sind, erhalten im Tessin nur den Mindestlohn von Fr. 17.50 pro Stunde.
Der Hersteller sagt da-zu, man bezahle den Angestellten einen 13. Monatslohn, was beim kantonalen Mindestlohn nicht der Fall sei. Zudem erhielten die Angestellten mindestens drei Tage mehr Ferien pro Jahr als gesetzlich vorgeschrieben.
Labels zahlen mickrige Praktikantinnenlöhne
Noch tiefere Löhne bezahlt das Schweizer Traditionsunternehmen Bally, das im Tessin gut 200 Angestellte beschäftigt. Bally handelte mit der Gewerkschaft OCST eine Kollektivvereinbarung aus, die für die Angestellten noch nachteiliger ist. Das fand das Tessiner Magazin «L’Inchiesta» vor zwei Jahren heraus. Bally zahlte seinen Schneiderinnen damals etwas mehr als 15 Franken pro Stunde.
Eine Befragung von Angestellten vor zwei Monaten ergab: Bei Bally arbeiten Frauen für 1500 Franken im Monat, die befristet als Praktikantinnen angestellt sind. Bally sagt nicht, wie viel das Unternehmen seinen Mitarbeiterinnen heute bezahlt.
Es gibt weitere bekannte Modelabels, die günstige Praktikantinnen einstellen. Das Label Kazu Huggler in Zürich beschäftigte eine gelernte Kleidungsgestalterin ein halbes Jahr lang als Praktikantin und bezahlte ihr umgerechnet für ein volles Pensum weniger als 600 Franken im Monat.
Dazu sagt Kazu Huggler, heute würden ausgebil-dete Kleidungsgestalterinnen im Praktikum für ein Vollpensum 1000 Franken Lohn erhalten.
«Einkommen oft nicht existenzsichernd»
Solche Anstellungsbedingungen sind in der Mode- und Kleiderbranche in der Schweiz gang und gäbe. Der Verein Fashion Revolution, der sich für faire Arbeitsbedingungen einsetzt, schreibt: «Die Unternehmen zahlen Fachkräften in besorgniserregend vielen Fällen nicht nur im Ausland, sondern auch in der Schweiz kaum existenzsichernde Einkommen.»
Die von der Textilbranche bezahlten Löhne liegen klar unter den Mindestlöhnen, die der Branchenverband Swissmode empfiehlt. Demnach sollten ausgebildete Schneiderinnen im ersten Berufsjahr nach der Lehre Fr. 4141.20 pro Monat verdienen, ab dem fünften Berufsjahr wären es mindestens Fr. 5018.40.
Bundesrätin Keller-Sutter, die eine Vorliebe für Kleider von Akris hat, will die tiefen Löhne bei der Kleidermarke nicht kommentieren. Auf die Frage des K-Tipp, ob sie ihre Kleider geschenkt erhalte, schreibt ihr Generalsekretär: «Die Bundespräsidentin trifft ihre Kaufentscheidungen frei und bezahlt ihre Kleider selber.»
Null Franken Lohn in der Lehre
Angestellte in der Bekleidungsindustrie lernen bereits in der Lehre, dass der Lohn für ihre Arbeit miserabel ist. S. T. aus Sins AG etwa absolvierte ihre dreijährige Berufslehre als Kleidungsgestalterin in einem Lehratelier eines Aargauer Berufsbildungszentrums. Sie verdiente während der ganzen Lehre keinen Franken, wozu sie im Lehrvertrag ihr Einverständnis geben musste.
S. T. ist keine Ausnahme. Kleidungsgestalterinnen in Ausbildung müssen in fast allen Kantonen gratis arbeiten, wenn sie ihre Lehre in Lehrateliers von kantonalen Berufsbildungszentren machen. Denn viele Kantone kürzten ihre Bildungsbudgets. Private Modelabels bieten kaum mehr Lehrstellen an. Sie schieben die Ausbildung der Fachkräfte auf den Staat ab.