Douglas Jackson aus Zürich arbeitete als Sprachlehrer. 2014 erlitt er ein Burnout. Der gebürtige Texaner war längere Zeit im Spital. Die Ärzte diagnostizierten diverse Erkrankungen, etwa eine depressive Störung, bösartigen Hautkrebs und Schmerzleiden.
Jackson musste sein Arbeitspensum auf rund 30 Prozent reduzieren und meldete sich bei der Invalidenversicherung (IV) an. Zahlreiche Ärzte beurteilten Jackson als zu mindestens 70 Prozent arbeitsunfähig.
Jackson beantragte bei der IV-Stelle Zürich eine Rente. Die Behörde liess den Versicherten durch die private Gutachterstelle Abi Basel GmbH ärztlich begutachten. Diese beurteilte Jackson als zu 80 Prozent arbeitsfähig. Die IV verweigerte eine Rente. Er wehrte sich dagegen, aber ohne Erfolg. Jackson kritisiert: «Die Gutachter sprachen nur jeweils 40 Minuten mit mir. Und in dieser kurzen Zeit meinen sie, meine Leiden besser beurteilen zu können als die vielen Ärzte, die mich jahrelang betreuten.»
Die Gutachterfirma Abi fiel in der Vergangenheit negativ auf: Ihr Geschäftsführer hatte laut einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in mehreren Fällen die Gutachten zum Nachteil der Versicherten geändert.
Zehenstand auf fehlendem Fuss
Auch Selina Bauer (Name geändert) aus Thun BE machte mit der IV schlechte Erfahrungen. Sie leidet seit Geburt an Missbildungen an beiden Beinen und einer Hand. Ein Fuss fehlt ihr seit Geburt. Jetzt trägt sie am Unterschenkel eine Prothese. An der linken Hand hat sie nur noch den kleinen Finger. Sie leidet auch an chronischen Kreuzschmerzen, die in die Beine ausstrahlen, sowie an einer Darmkrankheit.
Die IV-Stelle Bern sprach der Frau 2007 eine Viertelrente zu. Bauer erinnert sich: «Der Gutachter hat mich abschätzig behandelt.» Doch sie habe den tiefen Rentenbescheid akzeptiert. «Mir fehlte damals das Selbstvertrauen, mich zu wehren.»
Bauer arbeitete rund zehn Jahre als Lehrerin in einem 35-Prozent-Pensum. 2017 bekam sie die Kündigung, weil sie krankheitsbedingt zu viele Absenzen hatte. Sie beantragte bei der IV eine Erhöhung auf eine halbe Rente. Die IV-Stelle schickte Bauer erneut zu einer Gutachterin. Deren Einschätzung: Der Gesundheitszustand von Bauer habe sich nicht verschlechtert. Die Bernerin kritisiert das Gutachten: Die Ärztin habe etwa geschrieben, dass sie Bauer an beiden Füssen den Puls messen konnte und Bauer auf beiden Beinen einbeinig auf den Zehen stehen konnte. «Das ist aber unmöglich, weil mir ein Fuss fehlt.»
Das Berner Obergericht wies Bauers Beschwerde ab: Das Gutachten überzeuge zwar «punktuell nicht restlos». Ein Zehenstand auf einer Prothese «erstaunt zumindest». Dennoch sei das Gutachten «einleuchtend begründet». Der Fall ist vor Bundesgericht hängig.
Eigenes Gutachten für 10 000 Franken
Einen zermürbenden Streit mit der IV erlebte auch Peter Erni (Name geändert) aus dem Kanton Solothurn. Der ehemalige Bauarbeiter leidet seit einem Arbeitsunfall an verschiedenen Schmerzen. Erni erhielt nach mehreren medizinischen Untersuchungen ab 2005 eine ganze IV-Rente. 2013 überprüfte die IV- Stelle die Rente und schickte Erni erneut zur Begutachtung. Resultat: Seine Gesundheit habe sich erheblich verbessert. Die IV- Stelle reduzierte die Leistung von Peter Erni auf eine Viertelrente.
Erni wehrte sich und liess für 10 000 Franken ein eigenes medizinisches Gutachten erstellen. Das Versicherungsgericht Solothurn gab dann ein weiteres Gutachten in Auftrag. Gestützt darauf beurteilte es Erni letztes Jahr als arbeitsunfähig – Erni erhält somit weiterhin eine ganze Rente.
Das sind die Tipps der spezialisierten Anwälte
Diese Beispiele zeigen: Der Weg zu einer IV-Rente ist oft lang und beschwerlich. Das raten Anwälte, die auf IV-Verfahren spezialisiert sind:
Anmeldeformular: Für das Ausfüllen eines Anmeldeformulars bei der zuständigen IV-Stelle braucht man im Normalfall keinen Rechtsvertreter, sagen die Anwälte übereinstimmend. Laut Ueli Kieser, Rechtsanwalt aus Zürich, kann sich aber in komplizierten Fällen eine vorgängige Beratung lohnen – etwa bei häufigen Stellenwechseln. Der Sankt Galler Anwalt Ronald Pedergnana rät Selbständigen möglichst früh zu einer Beratung.
Gutachter bestimmen: Laut Holger Hügel, Rechtsanwalt aus Basel, sollten sich Versicherte spätestens dann beraten lassen, wenn die IV-Stelle eine medizinische Abklärung ankündigt. Das sei bei einem Anwalt oder einer Rechtsberatungsstelle möglich. Es gebe Gutachter, die negativ auffallen. In einzelnen Kantonen wie zum Beispiel Zürich könne man sie ablehnen und einen anderen Arzt vorschlagen. Der Zürcher Anwalt Viktor Györffy weist darauf hin, dass man ein widersprüchliches Gutachten der IV mit einem selbst in Auftrag gegebenen Gutachten entkräften kann – sofern es die Finanzen zulassen.
Ärztliche Untersuchung: Während der ärztlichen Untersuchung ist Vorsicht geboten. Rémy Wyssmann, Anwalt aus Oensingen SO, betont: «Wer sagt, es gehe ihm immer schlecht, gilt schnell einmal als Simulant.» Anwalt Hügel rät, authentisch zu sein: «Man sollte weder übertreiben noch untertreiben.»
Haushaltsabklärung: Bei einem Hausbesuch der IV sollte der Versicherte darauf pochen, dass auch der Anwalt oder eine Begleitperson anwesend ist, rät Anwalt Hügel. «Man sollte die Wohnung vor dem Besuch nicht extra herausputzen, sonst meint der IV-Angestellte, man könne alles selber erledigen.» Am besten belasse man die Wohnung in dem Zustand, wie sie im Normalfall sei.
Das sind die Leistungen der IV
- Berufseingliederung: Oberstes Ziel der IV ist es, die Versicherten wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Dazu bietet sie Umschulungen, Beratung, Arbeitsvermittlung und medizinische Hilfsmittel an. Während der Eingliederungsphase zahlt die IV Taggelder von 80 Prozent des letzten Einkommens.
- Renten: Erst wenn eine Weiterbeschäftigung oder ein Berufswechsel nicht möglich ist, entsteht ein Anspruch auf eine IV-Rente. Wer weniger als 40 Prozent arbeitsunfähig ist, geht leer aus. Ab einer Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent gibts eine Viertelrente, ab 50 Prozent eine halbe, ab 60 eine Dreiviertelrente und ab 70 Prozent eine ganze Rente.
- Hilflosenentschädigung: Darauf hat Anspruch, wer im Alltag Hilfe braucht, etwa beim Ankleiden, bei der Körperpflege oder bei der Fortbewegung.
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