Ein orthopädischer Chirurg mit eigener Praxis im Kanton Bern wurde vom Bundesgericht dazu verurteilt, 31 Krankenkassen alleine für das Jahr 2014 über 400 000 Franken zurückzuzahlen. Grund: Er hatte überhöhte Arztrechnungen gestellt. Er war pro Patient mehr als drei Mal so teuer wie seine Arztkollegen im Durchschnitt.
Ärzte, die das Gesundheitssystem ausnützen, spürt Lukas Brunner vom Verband der Krankenkassen Santésuisse auf – und bringt sie vor Gericht. Mit einer ausgeklügelten Software erfassen er und sein Team jedes Jahr die Arztrechnungen von 27 000 Medizinern mit eigener Praxis. So kann er herausfinden, welche Ärzte wesentlich mehr in Rechnung stellen als die meisten anderen. Wenn ein Arzt über 30 Prozent teurer ist als sein Kollege im gleichen Fachgebiet, wird Santésuisse bei ihm vorstellig. Kann der Arzt seine hohen Kosten nicht mit zum Beispiel überdurchschnittlich vielen schwer kranken Patienten erklären, geht der Krankenkassenverband gegen ihn vor.
So wie im Fall einer Psychiaterin aus dem Kanton St. Gallen: Im Jahr 2017 schrieb sie zulasten der Krankenkassen Rechnungen von 1,7 Millionen Franken. Das ist 2,4 Mal so viel wie der Durchschnitt ihrer Kollegen. Die Ärztin delegierte Behandlungen von mehr als 100 Stunden pro Woche an angestellte Psychotherapeuten, was nicht zulässig ist. Nun muss sie 950 000 Franken zurückzahlen.
Bei der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung durch den Krankenkassenverband fallen etwa 1500 Ärzte pro Jahr statistisch auf und werden genauer kontrolliert. Das führt zu 100 bis 130 Gerichtsfällen gegen Ärzte – Tendenz zunehmend, sagt Lukas Brunner: «Allein 2018 haben wir mit Vergleichen und durch Gerichtsentscheide Rückforderungen von 8,5 Millionen Franken erzielt.» Ein Jahr zuvor waren es 3,9 Millionen Franken.
Schuld an den hohen Arztkosten seien falsche Anreize im Gesundheitswesen, sagt Gesundheitsökonom Guido Klaus von der Helsana. Denn die Ärzte könnten weitgehend selbst bestimmen, wie viel sie verdienen wollen. Dabei beeinflussen sie künstlich die Nachfrage. Beispiel: Wenn die Praxis nicht ganz ausgelastet ist, lassen sie ihre Patienten zu einer Nachkontrolle kommen, auch wenn diese nicht notwendig ist. Mit jeder Behandlung verdient ein Arzt Geld. Gibt er den Patienten teure Originalmedikamente statt günstigere Generika, ist das für ihn lukrativer.
Ein Arzt «arbeitete» 24 Stunden am Tag
Es gibt nicht nur Ärzte, die das Gesundheitssystem bis zum Äussersten ausnutzen, sondern auch solche, die betrügen: Grosse Kassen wie die Helsana und die CSS unterhalten deshalb eigene Teams zur «Betrugsbekämpfung». Der CSS ging ein Hausarzt aus dem Kanton Aargau ins Netz, der den Krankenkassen in den Jahren 2015 und 2016 insgesamt 3,4 Millionen Franken an Arztrechnungen gestellt hatte, mehr als vier Mal so viel wie ein durchschnittlicher Kollege. Der Clou: Der Arzt rechnete pro Tag 24 Stunden ab. Nun ist er untergetaucht. Er wird wegen Betrug und Urkundenfälschung mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Eine Hausärztin aus dem Kanton Luzern stellte 2014 bis 2018 Rechnungen von bis zu 4 Millionen Franken pro Jahr. Sie hatte angeblich 4000 Patienten. Drei Jahre zuvor waren es noch rund 700 Patienten gewesen. Lange blieb sie unentdeckt. Ihr Trick: Sie verteilte ihre Arztrechnungen auf Patienten in Alters- und Pflegeheimen ihres ehemaligen Arbeitgebers. So blieben ihre Durchschnittskosten pro Patient im Rahmen. Die Quittung: Die Ärztin muss 1 Million Franken zurückerstatten.
Kontrollen haben präventive Wirkung
Rückzahlungen von missbräuchlichen Rechnungen sind nur ein Teil der Einsparungen, die Santésuisse und die Krankenkassen erzielen. «Wichtiger ist die präventive Wirkung unserer Arbeit», sagt Lukas Brunner. Weil die Ärzte um die Kontrolle wissen, passen die meisten auf, nicht unnötig zu behandeln und übertrieben hohe Rechnungen zu stellen.
Manche Ärzte sind sehr kreativ, wenn es darum geht, Statistiken zu schönen und unter dem Radar der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung zu bleiben: So gründeten zum Beispiel zwei Ärzte eine Gruppenpraxis. Pro Arzt haben sie bereits eine Zahlstellenregisternummer (ZSR) erhalten, über die sie mit den Krankenkassen abrechnen. Für die Gruppenpraxis bekommen sie eine zusätzliche Nummer. So können sie ihre überhöhten Rechnungen auf drei verschiedene Krankenkassennummern verteilen und fallen so in der Rechnungsstatistik nicht auf.
Es ist schwieriger, Ärzte zu überführen, die nicht nur übertrieben viel behandeln, sondern vielleicht betrügerisch tätig sind, wie dieser Fall zeigt: Die Krankenkasse Helsana ermittelte gegen ein psychiatrisches Institut im Kanton Zürich, das den Kassen gesamtschweizerisch Arztrechnungen mit durchschnittlich 24 Stunden Leistungen pro Tag stellte, obwohl nur ein einziger Psychiater angestellt war. Die Schadenssumme für die Jahre 2013 bis 2015 beträgt für alle Krankenkassen über 1,7 Millionen Franken. Helsana hat Strafanzeige erstattet. Das Strafverfahren läuft.
Und was meint die Ärzteverbindung FMH zu solchen Machenschaften? Ärzte, die absichtlich zu viel oder falsch abrechnen, seien, so die FMH, «nachweislich gemäss Erhebungen äusserst selten und bewegen sich im Promillebereich der Ärzteschaft».
Das Problem: Alle Ärzte haben mit den Kassen einen unkündbaren Vertrag, der ihr Einkommen sichert – egal wie teuer oder schlecht sie arbeiten. Die Kassen können sich nur in Extremfällen gegen überrissene Arztrechnungen wehren, sagt Guido Klaus von der Helsana. Das Gesetz erlaube nicht, «unwirtschaftliche Ärzte auszuschliessen» – also solche, die bei den Rechnungen schummeln. Santésuisse fordert deshalb die Lockerung des Vertragszwanges. Bei der FMH zeigt man sich skeptisch: «Patienten wollen ihren Arzt frei wählen. Deshalb wurde die Lockerung des Vertragszwanges an der Urne bereits zweimal deutlich abgelehnt», sagt FMH-Präsident Jürg Schlup.