Notfall im Bürgerspital Solothurn: Ein schwerverletzter Patient mit Genickbruch liegt im Schockraum. Ein Arzt will die Wundversorgung durchführen. Doch das nötige Pflegepersonal fehlt. «Völlig verschmutzt» kommt der Patient auf die Intensivstation. Dort kann er mangels Personal nicht einmal in ein Patientenbett verlegt werden.
Dieser exemplarische Fall ist im spitalinternen Fehlermeldesystem CIRS dokumentiert, das eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Dort melden Pflegepersonen anonym Missstände. Dem K-Tipp liegen mehrere solcher Dokumente vor. Sie zeigen: Im Bürgerspital Solothurn, einer kantonalen Klinik, gibt es personelle Engpässe. Die Spitalleitung schreibt zum geschilderten Fall, es habe keine Lebensgefahr bestanden und der Patient sei nicht zu Schaden gekommen. Es seien organisatorische und personelle Massnahmen aufgegleist worden.
Eine neue Untersuchung zeigt: Der Pflegenotstand ist weit verbreitet. Pflegeexperten untersuchten die grössten 69 Schweizer Spitäler, die über eine Notfallabteilung verfügen. Sie verglichen die tatsächlich geleisteten Pflegestunden mit dem Bedarf für eine optimale Patientenbetreuung. Maria Schubert von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften sagt: «Die Analyse bringt diejenigen Spitäler ans Licht, die im Verdacht stehen, beim Pflegepersonal zu stark zu sparen.» Darunter sind gewinnorientierte Privatspitäler sowie öffentliche Kantonsspitäler. Insgesamt beschäftigen laut den Experten 17 grosse Spitäler zu wenig Pflegepersonal (siehe Kasten Im PDF).
Zwei Fachpersonen für 23 Patienten
Pflegerinnen und Pfleger berichteten dem K-Tipp von Missständen in ihren Klinike. Betroffen ist auch das Claraspital in Basel: «In einer Nachtschicht muss eine Pflegefachperson zusammen mit einer Fachangestellten Gesundheit in diesem Jahr bis zu 23 Patienten betreuen.» Das führe immer wieder zu kritischen Situationen. Die Spitalleitung sagt dem K-Tipp dazu, sie habe «aufgrund der zunehmenden Leistungsverdichtung» seit Anfang Jahr eine zusätzliche Pflegefachperson eingestellt – eine einzige. Für die Öffentlichkeit tönt es anders: «Bei uns sind Sie in den allerbesten Händen», wirbt die Klinik auf ihrer Homepage.
Auch in der Hirslandenklinik St. Anna in Luzern gibts Spardruck. Eine Pflegerin berichtet: «Früher betreute eine Pflegefachperson mit einer Lernenden sechs Patienten. Heute sind es zwölf.» Zusätzliche administrative Aufgaben würden den Spardruck verschärfen. Auf der Strecke bleiben die Patienten: «Im Spätdienst bin ich nur noch 1,5 von 8 Stunden bei Patienten. Der Rest ist Computerarbeit.» Die Pflegerin sagt, sie gehe oft mit dem Gefühl nach Hause, die Patienten nicht genug betreut zu haben. Die Hirslandenklinik bestätigt gegenüber dem K-Tipp den Pflegenotstand, weist aber die Verantwortung von sich: «Wie viele andere Spitäler finden wir momentan nicht genügend Personal für Festanstellungen.»
Der Personalengpass in Kliniken geht zulasten der Sicherheit von Patienten. Es kommt zu mehr Fehlern, etwa Patientenverwechslungen, Stürzen oder Behandlungsverzögerungen. Das belegen Auszüge aus dem internen Fehlermeldesystem CIRS. Beispiel Claraspital Basel: Patient mit Fieber und Schüttelfrost hat Sepsis (lebensbedrohliche Infektion des ganzen Körpers), Diagnose um 10 Uhr, Behandlung mit Antibiotikum erst um 16 Uhr. Beispiel Bürgerspital Solothurn: Die Kaliuminfusion läuft doppelt so schnell wie vorgeschrieben. Der Kommentar einer Pflegefachperson: Das sei lebensgefährlich. Das Bürgerspital Solothurn sagt, auch bei diesem Fall sei der Patient nicht zu Schaden gekommen.
Wie gross der Stress im Spitalalltag in der Pflege ist, zeigt auch ein Beispiel aus der Schulthess-Klinik Zürich. Eine Pflegerin schildert: «Der Zeitdruck führt dazu, dass man Blutdruckwerte in der Patientendoku-mentation einträgt, die man gar nie gemessen hat – einfach damit es auf dem Papier stimmt.» Sie gibt an, nur noch maximal die Hälfte ihrer Zeit für Patienten aufwenden zu können. Der Rest sei Administration. Die Klinik bestätigt, dass die «administrativen Aufgaben durch die gesetzlichen Vorgaben bezüglich Dokumentationspflicht zugenommen haben».
Sparkurs führt zu Todesfällen
Wenn Spitäler zu stark sparen, wird es gefährlich für Patienten. In einer Studie hat der Pflegewissenschafter Michael Simon von der Uni Basel letztes Jahr berechnet: «Unterbestände von Pflegefachpersonal sind pro Jahr verantwortlich für bis zu 243 Todesfälle und 4600 Komplikationen wie Kreislaufkollapse oder andere Stoffwechselentgleisungen.»
Spitäler mit zu wenig Pflegepersonal
Pflegeexperten untersuchten die grössten 69 Schweizer Spitäler mit einer Notfallabteilung. Sie verglichen die geleisteten Pflegestunden mit dem Bedarf für eine optimale Patientenbetreuung. Bei der Berechnung des Pflegebedarfs flossen Faktoren ein wie ambulante Konsultationen, Anzahl stationäre Fälle, Anzahl Operationssäle, Spitaltyp, Intensivstation und Notfall. Auch der Trend über die Jahre 2016 bis 2018 wurde berücksichtigt. Die Auswertung basiert auf Pflegedaten des Bundesamts für Statistik von 2016 bis 2018. 17 Akutspitäler haben demnach zu wenig Pflegepersonal:
- Bethesda-Spital, Basel
- Hirslanden Bern
- Hirslanden St. Anna, Luzern
- Hirslanden Stephanshorn, St. Gallen
- Hôpital du Valais, Sion
- Hôpital Riviera Chablais VS/VD
- Kantonsspital Baselland
- Kantonsspital Glarus
- Kantonsspital Graubünden
- Schulthess-Klinik, Zürich
- See-Spital Horgen & Kilchberg ZH
- Solothurner Spitäler
- Spital Wallis, Spitalzentrum Oberwallis, Brig VS
- Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken BE
- Spitäler Schaffhausen
- St. Claraspital, Basel
- Zuger Kantonsspital
Die Spitäler schreiben dem K-Tipp, sie könnten die Auswertung nicht nachvollziehen. Einige Spitäler bestreiten den Vorwurf, zu wenig Pflegepersonal zu haben. Die Kantonsspitäler Solothurn und Schaffhausen erklären, sie hätten in der Zwischenzeit neue Stellen geschaffen.