Das war eine ungemütliche Weihnacht. Rita Rener aus dem Kanton Aargau (Name geändert) war vom 21. bis 27. Dezember 2012 in Paris – und ausgerechnet über die Festtage musste sie notfallmässig ins Spital. Drei Tage verbrachte sie sogar auf der Notfallstation.
Ebenso unerfreulich war das verspätete Weihnachts-«Geschenk», das sie jüngst vom Bundesgericht erhielt. Mit Urteil vom 14. Oktober 2015 entschieden die höchsten Richter: Obwohl die Frau ihre Franchise der Grundversicherung von 300 Franken sowie den maximalen Selbstbehalt von 700 Franken im Kalenderjahr 2012 bereits bezahlt hatte, muss sie für die Spitalbehandlung in Paris einen weiteren Selbstbehalt von umgerechnet Fr. 2997.85 zahlen.
Der Hintergrund: Wenn Schweizer und Schweizerinnen in einem EU- oder Efta-Land notfallmässig zum Arzt oder ins Spital müssen, können sie die Europäische Krankenversicherungskarte vorlegen. So ist sichergestellt, dass ihre Schweizer Kasse die Kosten vergütet. Diese Regelung basiert auf einem bilateralen Vertrag zwischen der Schweiz und der EU.
Happige Selbstbehalte in EU-/Efta-Ländern
Jetzt sagt aber das Bundesgericht: Selbstbehalte, die bei medizinischen Behandlungen in einem EU- oder Efta-Land anfallen, müssen die hiesigen Krankenversicherer nicht übernehmen. Das bedeutet für die Schweizer Versicherten: Je nach EU-Land müssen sie mit happigen Selbstbehalten rechnen.
Bei Behandlungen in der Schweiz würden die Selbstbehalte für Erwachsene maximal 700 Franken pro Jahr betragen. Aber Frankreich zum Beispiel langt kräftig zu: Bei Arztbehandlungen beträgt der Selbstbehalt 30 Prozent, bei Spitalbehandlungen 20 Prozent. Auch in Slowenien kann die Kostenbeteiligung im Spital bis 30 Prozent betragen. Andere Länder sind günstiger oder verlangen gar keinen Selbstbehalt. In Deutschland zum Beispiel beträgt er 10 Euro pro Spitaltag.
Der Entscheid des Bundesgerichts führt für Schweizer Versicherte bei Notfallbehandlungen im Ausland zu einer paradoxen Situation: Der Vertrag mit der EU sollte sie eigentlich besserstellen als in übrigen Ländern. Jetzt gilt das Gegenteil: Wer in einem Nicht-EU- oder Nicht-Efta-Land notfallmässig behandelt werden muss, hat laut dem Schweizer Krankenversicherungsgesetz Anspruch auf Vergütung von maximal den doppelten Kosten, die in der Schweiz anfallen würden. Und das bis zu einem maximalen Selbstbehalt von 700 Franken pro Jahr. Da die Schweizer Tarife sehr hoch sind, reicht dieser gesetzliche Anspruch für eine Deckung in fast allen Staaten.
Verschiedene kantonale Versicherungsgerichte hatten dies in früheren Jahren erkannt und diese gesetzlich vorgesehenen Leistungen auch bei Behandlungen von Schweizern im EU-Ausland anerkannt. Die im bilateralen Vertrag vereinbarte internationale Leistungsaushilfe sei nur dann anzuwenden, wenn sie für den Versicherten vorteilhafter wäre als das Schweizer Krankenversicherungsgesetz, meinte etwa das Kantonsgericht Baselland.
Zusatzversicherung für Selbstbehalt
Immerhin: Für Schweizer gibt es bei einzelnen Krankenkassen die Möglichkeit, die in der EU anfallenden Selbstbehalte mittels Zusatzversicherung zu versichern. Im Detail:
- Wer beim TCS den ETI-Schutzbrief hat sowie für zusätzliche 32 Franken den Heilungskosten-Zusatz für Europareisen, erhält die Kostenbeteiligung in EU- und Efta-Ländern vollständig ersetzt. So steht es explizit in den Versicherungsbedingungen (AVB).
- Das Gleiche gilt für die Ferien-Zusatzversicherung Mondia der Assura und die Zusatzversicherung «Individual Global Solution» der Groupe Mutuel.
- Die Helsana übernimmt die «ausländische» Kostenbeteiligung aus den Zusatzversicherungen Top oder Completa – allerdings wiederum mit einem Selbstbehalt von 300 Franken.
- Die KPT sagt, sie übernehme die Kostenbeteiligung aus der Spitalversicherung Halbprivat oder Privat. In den AVB fehlt aber ein präziser Hinweis. Die KPT betont, es handle sich um eine «Kulanzleistung». Das Gleiche gilt für die Ferienversicherung Vacanza der Visana.
- Einige Kassen geben auf Anfrage an, die «ausländische» Kostenbeteiligung sei über eine Zusatzversicherung gedeckt. Sie verweisen auf die darin gewährte volle Kostendeckung im Ausland, haben aber in den AVB keinen expliziten Hinweis auf die Selbstbehalt-Regelung in der EU/Efta. Es kann sich lohnen, vor einem Auslandaufenthalt nachzufragen. Das betrifft Concordia (Diversa und Spitalzusatzversicherung), ÖKK (Tourist), Swica (Spitalzusatzversicherung) und Sympany (Hospita und Tourist).
- Von den zehn grössten Kassen bieten Atupri, EGK und Sanitas keine solche Selbstbehaltdeckung an.
- Die erwähnte Rita Rener ist bei der Krankenkasse Agrisano versichert. Das ist diejenige Kasse, die sich weigerte, der Frau die Kostenbeteiligung in Frankreich zu ersetzen, und die vom Bundesgericht Recht erhielt. Auch die Agrisano hat keine Selbstbehalt-Deckung im Angebot.
Tipp: Informationen zur Kostenbeteiligung in den EU- und Efta-Ländern finden Sie auf Kvg.org.
INTERNATIONALE LEISTUNGSAUSHILFE
Über das Abkommen zur Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und den EU-/Efta-Staaten ist auch die sogenannte internationale Leistungsaushilfe geregelt.
Bei Spitalaufenthalten heisst das: Die Rechnung des ausländischen Spitals kommt in der Schweiz an die «Gemeinsame Einrichtung KVG». Diese dient in solchen Fällen als Verbindungsstelle in der Schweiz und treibt das Geld bei der hiesigen Krankenkasse ein. Ausländische Selbstbehalte sind vor Ort zu zahlen. Oder das ausländische Spital schickt dem Patienten später eine Rechnung über den zu bezahlenden Selbstbehalt.
Wichtig: Nehmen Sie bei Reisen in ein EU- oder Efta-Land immer Ihre Europäische Krankenversicherungskarte mit. Sie ist auf der Rückseite der schweizerischen Versichertenkarte aufgedruckt.