Ein K-Tipp-Leser aus Zürich litt an chronischen Schmerzen im Brustbereich. Er liess sich im Physiozentrum Zürich Altstetten behandeln. Die Praxis ist eine Filiale der Firma Physiozentrum AG mit Hauptsitz in St. Gallen.
Das Unternehmen berechnete dem Mann für neun Einzelsitzungen zu 25 Minuten stets die Tarifposition 7311. Diese gilt für aufwendige Behandlungen. Damit kostet eine Sitzung Fr. 85.47. Das sind Fr. 33.63 mehr als bei der Tarifposition 7301 für gewöhnliche Behandlungen.
Der betroffene Patient war wegen der gleichen Schmerzen zuvor bereits im Unispital Zürich in Behandlung. Dort rechnete die Physiotherapeutin stets den tieferen Tarif ab.
Hohe Mehrkosten bei den Krankenkassen
Was der K-Tipp-Leser erlebte, ist kein Einzelfall. Physiotherapien kosten für die Prämienzahler immer mehr, weil viele Praxen seit Frühjahr 2023 deutlich mehr aufwendige Behandlungen in Rechnung stellen als vorher. Das belegen Zahlen der Krankenkasse Helsana. Danach mussten die Kassen im Jahr 2023 in der Grundversicherung insgesamt 260 Millionen Franken für Physiotherapien erstatten. Das waren 62 Millionen Franken mehr als 2020. Die Mehrausgaben gehen vor allem auf das Konto der Tarifposition 7311: Im Jahr 2023 rechneten Praxen damit 117 Millionen Franken ab – 51 Millionen Franken mehr als 2020.
Grosse Praxen rechnen oft höheren Tarif ab
Rund 200 Praxen fielen laut einer Auswertung der CSS durch eine besonders starke Zunahme der 7311er-Rechnungen auf. Das ist vor allem bei grossen Physiotherapiefirmen der Fall: 2023 kamen laut der Helsana drei Praxen mit über einer halben Million Franken Umsatz in den zwei Jahren zuvor auf eine Quote von mehr als 90 Prozent für aufwendige Therapien. Bei anderen Praxen waren es lediglich 18 Prozent.
Die Physiozentrum AG mit 29 Praxen reichte 2023 bei einer anderen grossen Krankenkasse 70 Prozent der Rechnungen mit aufwendigen Behandlungen ein. Ein Jahr zuvor hatte die Quote noch 20 Prozent betragen. Die Krankenkasse liess darauf von einem Physiotherapeuten einige Dutzend zufällig ausgewählte 7311er-Rechnungen der Physiozentrum AG kontrollieren. Ergebnis: Zwei Drittel der Behandlungen hätten mit dem gewöhnlichen Tarif abgerechnet werden müssen.
Wie ist diese Zunahme von aufwendigen Behandlungen zu erklären? Gegenüber dem K-Tipp sagen Experten der beiden Krankenkassen CSS und Helsana: Die Zunahme hänge unter anderem stark mit einer neuen Abrechnungssoftware und Beratungen durch die Firma Compis in Cham ZG zusammen.
«Gewinnoptimierung in vielen Praxen»
Dieter Siegrist ist bei der CSS der Leiter Wirtschaftlichkeitsprüfung und Bekämpfung Versicherungsmissbrauch. Er sagt: «Ab dem Frühjahr 2023 führten etliche Praxen das Abrechnungsprogramm ein und nahmen die Beratung der Compis in Anspruch. Danach schnellte bei vielen Praxen die Quote der Rechnungen für aufwendige Behandlungen nach oben.» Die Helsana sagt, man gehe davon aus, dass die Praxen «Gewinnoptimierung» betreiben.
Christoph Landolt von der Physiozentrum AG sagt, der Anteil von aufwendigen Behandlungen liege in den Praxen der Firma «nicht annähernd bei 70 Prozent». Für die Rechnungsstellung sei seit zwei Jahren ein Team von Tarifexperten zuständig. Dadurch ergebe sich eine höhere 7311er-Quote. Die Behandlungen würden die Kriterien für den teureren Tarif erfüllen.
Auf Anfrage des K-Tipp bestreitet die Firma Compis eine Verantwortung für die Zunahme von Behandlungen mit 7311er-Tarif. «Die korrekte Abrechnung liegt in der Verantwortung der Physiotherapeuten», sagt die Firma.
Nur: Die Compis profitiert davon, wenn viele Physiotherapien als aufwendige Behandlungen abgerechnet werden. Gemäss einem «Beratungsvertrag» erhält die Compis neben dem Honorar einmalig 1000 Franken «Erfolgsprämie» pro Physiotherapeut, sobald dieser nach der Beratung pro Monat «mehr als die Hälfte» seiner Behandlungen nach der Tarifposition 7311 abrechnet.
Meistens gilt der normale Tarif
Grundsätzlich gilt: Als aufwendige Physiotherapie darf eine Behandlung nur dann abgerechnet werden, wenn bestimmte Krankheitsbilder sie erschweren. Dazu zählen etwa die Beeinträchtigung des Nervensystems oder die Behandlung von zwei oder mehr Körperregionen. Ansonsten gilt der Tarif für eine gewöhnliche Physiotherapie. Vermutet ein Patient, dass der falsche Tarif belastet wurde, kann er sich an den Kundendienst seiner Krankenkasse wenden.