Das Leid der Hühner ist schwer erträglich: Ein Huhn pickt auf die Zehe einer anderen Henne ein, bis sie blutet. Das ist für das verwundete Tier eine gefährliche Situation. Denn Blut zieht Hühner an. Dann picken immer mehr Hühner auf das verletzte Huhn ein.
Sucht es nicht so schnell wie möglich Schutz in einer Ecke des Stalles, um seine Wunde vor den anderen zu verstecken, lebt es nicht mehr lange. Nicht selten hackt das verwundete Tier mit seinem Schnabel sogar noch selber auf seine Wunde ein. Weil Zehen stark durchblutet sind, verlieren verletzte Tiere innert Kürze viel Blut und sterben.
Eine neu veröffentlichte Studie der Uni Bern zeigt erstmals: Dieses kannibalistische Verhalten ist in Schweizer Hühnerställen heute weit verbreitet. Von 96 befragten Eierproduzenten hatte jeder zweite mindestens einmal mit diesem Problem zu kämpfen.
Nadja Brodmann, Hühnerexpertin und Geschäftsleitungsmitglied des Zürcher Tierschutzes, schreibt: «Die Füsse sind sehr empfindlich, die verletzten Tiere leiden deshalb unter grossen Schmerzen. Diese Verhaltensstörung ist sehr gravierend.»
Nur überzüchtete Hühner betroffen
In einer internationalen Fachzeitschrift informierte Geflügelforscherin Sabine Gebhardt vom Zentrum für tiergerechte Haltung der Uni Bern erstmals 2018 die Fachwelt, dass Hühner sich seit einigen Jahren öfters die Zehen blutig picken.Gebhardt vermutet, dass das krankhafte Verhalten einerseits durch Stress ausgelöst wird und andererseits erblich veranlagt ist.
Klar ist: Betroffen vom Kannibalismus sind nur weisse, überzüchtete Hühner, die eine maximale Eierleistung bringen müssen. Ein solches Huhn legt im Jahr 300 bis 320 Eier – fast jeden Tag eines. 70 Prozent der Eier, die in Schweizer Ställen gelegt werden, stammen von solchen Hochleistungshühnern.
Lange wurde den Hühnern die Schnabelspitze stark gekürzt. So konnten sie sich nicht mehr verletzen, selbst wenn sie aufeinander einpickten. Seit 2008 verbietet das Schweizer Tierschutzgesetz diese Tierquälerei. Heute dürfen Brütereien die Schnabelspitze der frisch geschlüpften Küken nur noch leicht abbrennen – im Fachjargon «touchieren» genannt. Seither wurde Zehenpicken zu einem grösseren Problem.
Beginnt im Stall das Zehenpicken, müssen Bauern die Räume abdunkeln, damit die aufgebrachten Tiere sich beruhigen. Diese Massnahme ist zwar ein Verstoss gegen das Tierwohl – und sogar gegen das Tierschutzgesetz. Doch anders lasse sich ein grösseres Massaker in der Hühnerherde nicht verhindern, sagen Fachleute übereinstimmend.
Migros und Coop suchen Lösungen
Wie passen diese Tierwohlprobleme zu den Bekenntnissen der beiden grössten Eierverkäufer, Migros und Coop? Sie garantieren in ihrer Werbung «hohe Anforderungen an das Tierwohl» (Migros) und das «Ausbleiben von Verletzungen und Schmerzen» der Hühner (Coop).
Beide Grossverteiler geben gegenüber dem K-Tipp zu, dass Zehenpicken in ihren Eierbetrieben ein Problem sei. Migros schreibt, man arbeite mit Wissenschaftern an Lösungen. Coop versucht in seinen Betrieben, das «Stresslevel» der Hennen «mit geeigneten Beschäftigungsmaterialien» zu senken, etwa mit Picksteinen, Körnern oder Strohballen.
Bio Suisse verbietet Hochleistungshühner
Der Zürcher Tierschutz fordert die Landwirte jetzt auf, auf weniger überzüchtete Rassen umzustellen. Diese Strategie beschloss auch der Verband Bio Suisse. Ab 2026 sind gemäss Richtlinien weisse, zehenpickende Hochleistungshühner nicht mehr zugelassen. Ab dann dürfen Bio-Eier nur noch von Zweinutzungshühnern stammen. Diese Rassen werden zum Eierlegen und Schlachten gehalten, legen weniger Eier und picken sich die Zehen nicht wund.
Zehenpickende Hochleistungshühner legen übrigens nur weisse Eier. Hochleistungshühner, die braune Eier legen, kennen Zehenpicken nicht, leiden aber unter anderen Verhaltensstörungen, etwa Federpicken. Oder sie häufen sich an, so dass Hühner dadurch ersticken.