Ein zwölfjähriges Mädchen war im Oktober 2011 mit dem Velo auf der Obernauerstrasse in Kriens LU unterwegs. Es wollte rechts in die Zumhofstrasse abbiegen. Gleichzeitig bog ein Lastwagen rechts ab. Der Fahrer sah das Mädchen nicht. Es kam dabei zu Fall, geriet unter den LKW und wurde überrollt. Das Mädchen starb noch auf der Unfallstelle.
Der verstörte Lastwagenchauffeur gab danach zu Protokoll: «Ich habe sie im Rückspiegel nicht gesehen und erst beim Rumpeln gemerkt, dass etwas nicht stimmt.»
Das Problem des toten Winkels ist seit langem bekannt. Wer jemals in einem LKW-Führerstand gesessen habe, wisse, dass es «beinahe unmöglich ist», die Situation «zutreffend zu überblicken», erklärt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer in Deutschland. «Der Fahrer muss nämlich nicht nur zur rechten Zeit in den richtigen Spiegel blicken, sondern gleichzeitig auch verschiedene Bewegungsabläufe zu einem richtigen Ganzen zusammensetzen», so Brockmann.
Unfallforscher fordern elektronisches System
Der Unfallforscher Wolfram Hell vom Institut für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München kennt die Folgen: «Überlebenschancen für Radfahrer sind in diesen Fällen praktisch gleich null.»
In Bayern vergehe kaum ein Monat, ohne dass in den Obduktionsräumen jemand liege, der auf diese Art und Weise umgekommen sei. Wie oft solche Unfälle in der Schweiz passieren, ist nicht bekannt. Es gibt laut dem Bundesamt für Strassen keine Statistik, die solche Unfälle erfasst.
Die beiden Unfallforscher Brockmann und Hell fordern, dass die Hersteller von Lastwagen ein elektronisches System einbauen, das den Chauffeur beim Abbiegen vor Personen im toten Winkel warnt. «Solche Abbiegeassistenten könnten – auf Grundlage unserer Unfalldatenbank – fast die Hälfte dieser Abbiegeunfälle verhindern», sagt Siegfried Brockmann.
Sicherheitssysteme dieser Art gibt es seit längerem. Nur: Die LKW-Hersteller tun sich schwer mit der Einführung. Vor sechs Jahren stellte die Firma MAN einen elektronischen Abbiegeassistenten vor. Dieses System erhielt sogar den 2. Preis in der Kategorie «Innovation und Umwelt» des Deutschen Automobilclubs (ADAC). Die Expertenjury wertete den Abbiegeassistenten als «entscheidenden Beitrag zur Erhöhung der aktiven Verkehrssicherheit in der Stadt». Doch das System ging nie in Serie.
Sicherheitssysteme lassen auf sich warten
Im vergangenen Herbst präsentierte Mercedes-Benz Trucks ein vergleichbares System. Auch bei diesem ist aber offen, ob und wann es serienmässig eingebaut wird. Und Volvo Trucks schreibt dem K-Tipp, sein System werde in fünf bis zehn Jahren marktreif sein.
Der politische Druck fehlt
Der Gesetzgeber könnte die Einführung elektronischer Abbiegeassistenten beschleunigen. Doch im Moment tut sich nicht viel: Weder Pro Velo Schweiz noch die Beratungsstelle für Unfallverhütung hat bisher die obligatorische Einführung elektronischer Abbiegeassistenten gefordert.
Laut dem Bundesamt für Strassen arbeitet man bei den internationalen, auch für die Schweiz geltenden Vorschriften an der Möglichkeit, sämtliche benötigten Spiegel durch Kamerasysteme zu ersetzen.
Doch diese Vorschriften allein brächten nichts, sagt der Unfallforscher Siegfried Brockmann. «Man muss den LKW-Fahrer beim Abbiegevorgang aktiv unterstützen. Das bedeutet erstens, dass es immer eine zuverlässige Warnung geben muss. In einem zweiten Schritt brauchen wir aber auch eine automatische Bremsung, wenn der Fahrer auf eine Warnung nicht oder falsch reagiert.» Doch ein solches Warnsystem lässt im Augenblick auf sich warten.
Spiegel, Linsen, Sichtfenster: Mehr Sicherheit für wenig Geld
Um die Unfallgefahr mit rechtsabbiegenden Lastwagen zu verkleinern, empfehlen sich verschiedene Massnahmen, die sich schnell und günstig umsetzen lassen.
- Trixi-Spiegel: Beatrix (Trixi) Willburger verunglückte in Deutschland, als sie mit ihrem Velo beim Rechtsabbiegen von einem LKW erfasst wurde. Sie überlebte den Unfall schwer verletzt und ist seitdem schwer behindert. Daraufhin entwickelte ihr Vater den Trixi-Spiegel (Bild links), der sich an gefährlichen Kreuzungen montieren lässt. In diesem Parabolspiegel kann der LKW- oder Busfahrer den ganzen Bereich vor und rechts neben seinem Fahrzeug überblicken. In der Schweiz haben unter anderem die Städte Winterthur, Basel, Biel, Aarau und Bern an besonders gefährlichen Stellen solche Trixi-Spiegel montiert. Kostenpunkt: ab 255 Franken.
- Speziallinsen: Die sogenannten Fresnel-Linsen erlauben durch Lichtbrechung einen Einblick in den toten Winkel. Sie sind aus Kunststoff und lassen sich am LKW-Beifahrerfenster festkleben. Sie sind im Internet ab 50 Franken erhältlich.
- Sichtfenster: Um das Sichtfeld des Fahrers zu vergrössern, können in die Beifahrertüren der LKWs Sichtfenster eingebaut werden. So kann der Chauffeur den Raum rechts von sich direkt überblicken. Diese Konstruktion ist in Japan schon seit Jahrzehnten Vorschrift. Volvo verkauft solche Sichtfenster für rund 480 Franken.
Tipps Velofahrer - Raum neben Lastwagen ist tabu
Der Raum neben einem LKW ist für Velofahrer tabu, selbst wenn ein Velostreifen vorhanden ist. Denn: Solange kein Blickkontakt zum Lastwagenfahrer möglich ist, befindet man sich im toten Winkel.
Weitere Tipps des Nutzfahrzeugverbands Astag und von Pro Velo, wie Fussgänger und Velofahrer den toten Winkel vermeiden können, finden sich unter www.astag.ch/Fachthemen/Sicherheit/Verkehrssicherheit.