Die TV-Spots dauern jeweils 40 Sekunden. Sie zeigen rührende Bilder von der Begegnung hochbetagter Menschen mit neugeborenen Babys. Sie werden in der ganzen Schweiz ausgestrahlt – über die vergangenen Festtage fast täglich. Und sie münden in die erstaunliche Aussage: «Jedes zweite Neugeborene wird 100 Jahre alt. Zeit, darüber nachzudenken.»
Wer Urheber dieser Werbekampagne ist, wird nicht mitgeteilt. Nach Recherchen des K-Tipp bestätigte die Lebensversicherung Swiss Life letzte Woche, dass sie dahinterstecke. Wie viel Geld die grösste Lebensversicherungsgesell-schaft der Schweiz dafür ausgibt, will sie nicht sagen.
Die Lebensversicherungen verdienen im Schweizer Pensionskassengeschäft viel Geld. Ihr Gewinn in diesem Bereich betrug laut Finanzmarktaufsicht 2013 knapp 678 Millionen Franken. Bei einer Senkung der Altersrenten würden sie noch mehr daran verdienen. Dieses Ziel wollten die Pensionskassen und Lebensversicherungen schon vor fünf Jahren mit der Senkung des Rentenumwandlungssatzes erreichen. Ohne Erfolg: Das Volk sagte im März 2010 an der Urne wuchtig Nein zu tieferen Renten.
Vor Debatte über Altersvorsorge
Doch das Anliegen der Versicherungen steht bereits wieder auf der politischen Traktandenliste. Das Parlament wird noch dieses Jahr die Debatte über die vom Bundesrat geplante Reform der Altersvorsorge aufnehmen. Der Bundesrat schlägt eine Senkung des Umwandlungssatzes vor – Volksentscheid hin oder her. Will Swiss Life mit der aktuellen Kampagne Propaganda für einen deutlich tieferen Umwandlungssatz machen? Der Versicherungskonzern bestreitet das: «Es geht hier nicht um politische Meinungsbildung», so Sprecher Martin Läderach. Man greife mit der Botschaft «länger Leben» vielmehr «ein gesellschaftlich hoch relevantes Thema» auf und wolle Anstoss liefern zu einer breiten Diskussion.
Diese Diskussion soll offenbar nicht auf Fakten beruhen, sondern auf Prognosen. Denn die Kernaussage «Jedes zweite Neugeborene wird 100 Jahre alt» ist nichts anderes. Sie stützt sich auf Angaben von Altersforscher James Vaupel vom Max-Planck-Institut und auf eine Studie der Uni Rostock, die Spekulationen über grosse medizinische Fortschritte in der Zukunft enthalten. Das soll es dereinst ermöglich, dass jedes zweite heute geborene Kind hundert Jahre alt wird. Ob man das für realistisch hält, ist eine Glaubensfrage.
Vaupel selbst sagte gegenüber dem deutschen Magazin «Focus»: «Die zahlreichen Neuerungen in der Medizin hat in der Vergangenheit niemand vorhergesehen. Aber es gibt sie. Genauso wenig kennen wir die Entwicklungen der Zukunft, doch sie werden kommen.» Und: «Ich glaube nicht an Grenzen, weder in der Medizin noch beim Alter.»
Tatsache ist: Im Jahr 2013 lag in der Schweiz die durchschnittliche Lebenserwartung Neugeborener gemäss den Periodensterbetafeln des Bundesamts für Statistik bei 82,7 Jahren. Diese Tabellen lassen nicht erwarten, dass die Lebenserwartung in den nächsten Jahren noch gross steigen wird. Betrachtet man nämlich die Entwicklung seit 1983 in Fünfjahresperioden, so zeigt sich: Die Zunahme der Lebenserwartung Neugeborener war von 2008 bis 2013 so gering wie in keinem Fünfjahresabschnitt zuvor. Konkret betrug sie bei den Knaben 0,8 und bei den Mädchen 0,4 Jahre – und damit nicht einmal mehr halb so viel wie zwischen 2003 und 2008.