Nach Feierabend trinke ich oft in meiner Lieblingsbeiz Corazon ein Ittinger-Bier. Wenn ich viel nachdenken muss, auch zwei. Hinter der Theke arbeitet David. Dunkles Haar, braune Augen. Um seinen Hals trägt er eine Kette mit einem Davidstern. «Jude», denke ich. Und spreche ihn darauf an. «Nein», sagt er, er sei kein Jude, die Kette habe ihm eine Freundin als Glücksbringer geschenkt. So kann man sich irren.

Ich schäme mich, weil mir das Wort Jude nicht flüssig über die Lippen ging. Ich habe gezögert, es auszusprechen, als ob Jude ein unanständiges Wort wäre. Und ich ärgere mich, weil ich mir von David vorschnell ein Bild gemacht habe.

Wir unterhalten uns. Er sei Schreiner, erzählt David, aber er habe den Beruf an den Nagel gehängt. Mich hat diese Episode an das Theaterstück «Andorra» von Max Frisch erinnert. Ein ganzes Dorf glaubt, der Schreinerlehrling Andri sei ein Jude. Sie irren sich. Die Menschen haben Vorurteile und sehen Andri durch eine Brille, die alles herausfiltert, was nicht ihrem Bild entspricht. Das ist gemein, denn Andri kann tun, was er will, die Dorfbewohner deuten sein Verhalten immer nach ihrer vorgefassten Meinung.

Daraus habe ich eine Lektion gelernt: Urteile nicht vorschnell. Das hilft mir auch bei meiner Arbeit als Journalist. Im Kassensturz erzählen wir unsere Geschichten zumeist auf den Punkt gebracht. Da besteht die Gefahr, dass wir Menschen in Schubladen stecken, mit der Beschriftung: Opfer, Experte, Gauner. Manchmal genügen wenige Merkmale. Und im Kopf entstehen Trugbilder. Slawische Gesichtszüge: Albaner mit Messer im Hosensack. Frau mit Kinderwagen: glückliche Mutter. Mann im Zweireiher: seriöser Geschäftsmann. Gegen solche Vorurteile hilft nur eines: Nachfragen.

Das habe ich bei David getan. Der Barmann studiert jetzt Gebärdensprache und will Dolmetscher für Gehörlose werden. Wer hätte das gedacht.