Exakt 64 Tage hintereinander soll eine Gruppe von Kaderärzten diverser Fachgebiete über einen bestimmten Patienten ein sogenanntes «interdisziplinäres Arztgespräch» geführt haben. Pro Gespräch stellte die Herzklinik des Unispitals Zürich der Krankenkasse 1000 Franken in Rechnung – bei diesem Patienten also total 64 000 Franken. Das geht aus Recherchen hervor, die der «Tages-Anzeiger» veröffentlichte.
Von Januar 2019 bis Juni 2020 soll das Spital 1700 solche Kaderarzt-Besprechungen für einen Gesamtbetrag von 1,3 Millionen Franken in Rechnung gestellt haben – und zwar durchwegs bei zusatzversicherten Patienten.
Nur: Mehrere Ärzte, in deren Namen diese Leistungen abgerechnet wurden, wussten nichts davon. Sie weilten teilweise an solchen Tagen im Ausland. Bei anderen sollen am gleichen Tag zur gleichen Zeit mehrere Besprechungen stattgefunden haben.
Prämienzahler fragen sich: Weshalb zahlen Krankenkassen Zehntausende von Franken an das Unispital Zürich für derart fragwürdige Rechnungen? Der K-Tipp fragte bei den fünf grössten Krankenversicherungen Assura, CSS, Helsana, Swica und Concordia nach.
Resultat: Swica, Helsana und Concordia bestätigen gegenüber dem K-Tipp, dass sie dem Unispital Rechnungen für diese fiktiven Arztgespräche bezahlt haben. Wie gross der finanzielle Schaden ist, klären die Kassen zurzeit ab.
«64 000 Franken müssten auffallen»
Die Helsana sagt gegenüber dem K-Tipp allerdings, «eine Rechnung mit Kosten für Arztgespräche über 64 000 Franken sei an sich noch keine Auffälligkeit». Anders die Swica: «64 000 Franken für Arztgespräche über einen Patienten an 64 hintereinander folgenden Tagen müssten auffallen.»
Bei der Concordia prüfe man Rückforderungen und rechtliche Schritte gegen das Unispital. Und die CSS sagt, sie werde die Abrechnungen rückwirkend vertieft prüfen und Patientenakten einfordern. Stosse sie auf Unregelmässigkeiten, werde auch sie vom Unispital Geld zurückfordern.
Staatsanwaltschaft bleibt untätig
Die Rechnungsstellung für nicht erbrachte ärztliche Leistungen ist auch ein Fall für den Staatsanwalt. Die Recherchen des «Tages-Anzeigers» begründen einen dringenden Verdacht auf gewerbsmässigen Betrug und Urkundenfälschung. Dabei handelt es sich um Offizialdelikte. Das bedeutet: Die Staatsanwaltschaft müsste von sich aus Ermittlungen aufnehmen, Beweise sichern und den Sachverhalt abklären.
Doch die Staatsanwaltschaft Zürich hat im Unispital weder eine Hausdurchsuchung veranlasst noch Computer beschlagnahmt, um Spuren für systematische Betrügereien sicherzustellen. Begründung gegenüber dem K-Tipp: «Wir gehen davon aus, dass das Unispital Zürich nach Abschluss seiner internen Untersuchungen auch im Fall der jüngst publik gewordenen Unregelmässigkeiten Strafanzeige einreichen wird, sofern sich der Verdacht auf strafbares Verhalten erhärten sollte.» Sprich: Die Staatsanwaltschaft wartet ab, bis sich der Täter selber anzeigt.
«Bei grossen Fällen wartet man zu»
Der Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth verurteilt diese Untätigkeit: «Selbstverständlich müsste die Staatsanwaltschaft Zürich von sich aus tätig werden. Sie dürfte nicht warten, bis das Unispital eine Strafanzeige einreicht.» Aber die Staatsanwaltschaften würden lieber gegen kleine Leute ermitteln. «Bei grossen Fällen warten sie zu, bis jemand anders aktiv wird.» Die Staatsanwaltschaften seien in einer echten Krise.
Markus Mohler war selbst jahrelang als Staatsanwalt in Basel tätig. Auch er sagt klar: «Die Staatsanwaltschaft Zürich müsste bei dieser Verdachtslage ein Vorverfahren einleiten. Das ist eine gesetzliche Pflicht.» Es gehe nicht an, zuzuwarten, bis das Unispital selbst tätig werde. Mohler: «Leitet die Staatsanwaltschaft kein Verfahren ein, könnte allenfalls eine Amtspflichtverletzung durch Unterlassung vorliegen.»
Peter Pellegrini ist im Kanton Zürich leitender Staatsanwalt und Chef der Abteilung für Wirtschaftsdelikte. In der aktuellen Ausgabe des Juristenmagazins «Plädoyer» stellt er nach 30 Jahren Berufserfahrung fest: Die Täter kämen heute öfter aus höheren Kreisen der Gesellschaft und würden Managerpositionen bekleiden. Viele würden nach dem Motto leben: «Bescheidenheit ist eine Zier, doch reicher wirst du nur mit Gier.» Er geht davon aus, dass es bei Wirtschaftsdelikten eine «gigantische Dunkelziffer» gibt. Da hat er wohl nicht ganz unrecht – vor allem wenn die Behörden auch bei offenkundigem Fehlverhalten die Augen schliessen.