Bundesrat, Pensionskassen und Versicherungen lamentieren seit Jahren, die Renten in der 2. Säule seien zu hoch. Die heutigen Renten würden teilweise von den Erwerbstätigen finanziert. Doch Fakt ist: Die Pensionskassen werden von Jahr zu Jahr reicher, weil sie den Neupensionierten immer weniger Rente ausrichten und auf den Altersguthaben der Erwerbstätigen einen viel tieferen Zins zahlen, als sie damit erwirtschaften (K-Tipp 1/2021). Von einer Umverteilung von Erwerbstätigen zu Rentnern kann somit keine Rede sein.
Die 2. Säule basiert auf dem Prinzip: Jeder spart selbst für das Alter. Das Alterskapital basiert auf seinen Einzahlungen, jenen des Arbeitgebers sowie den Zinsen, die ihm die Pensionskasse gutschreibt.
Früher Tod – gutes Geschäft
In diesem System findet jedoch eine Umverteilung statt, von der bisher kaum die Rede war: jene von Arm zu Reich. Dies deshalb, weil Angehörige aus der Unterschicht meist früher sterben als sozial Privilegierte – und die Pensionskassen deshalb die Renten deutlich weniger lange zahlen müssen als bei finanziell Bessergestellten.
Für die Pensionskassen sind Versicherte, die relativ früh sterben, ein gutes Geschäft. Denn die Kassen rechnen bei allen Versicherten mit der gleichen Lebenserwartung. Sterben sozial benachteiligte Versicherte vorzeitig, bleibt ihr noch nicht verbrauchtes Alterskapital in der Pensionskasse. Waren die Versicherten kinderlos und weder verheiratet noch in einer eingetragenen Partnerschaft, muss die Kasse auch keine Hinterlassenenleistungen erbringen.
Gewerkschaften kritisieren, dass die 2. Säule die tiefere Lebenserwartung sozial Benachteiligter ausser Acht lässt. Das führe zu einer Umverteilung von Arm zu Reich, «die sich nicht rechtfertigen lässt», heisst es beim Angestellten- Dachverband Travailsuisse. Und Daniel Lampart vom Gewerkschaftsbund hält in seinem Blog fest, dass «diese Ungleichheiten nicht nur sozialpolitisch, sondern auch versicherungstechnisch höhere Renten für untere Einkommen» rechtfertigen würden.
Der Bund verfügt gemäss eigenen Angaben über keine Daten zur unterschiedlichen Lebenserwartung nach sozialer Schicht. Allerdings liegen aus der Schweiz und Europa zu dieser Frage zahlreiche Untersuchungen vor. Sie machen klar, dass Leute aus bescheidenen Verhältnissen mehrfach benachteiligt sind: Sie führen ein hartes Arbeitsleben bei niedrigem Einkommen, haben eine tiefe Rente und eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung.
So zeigten Forscher der Uni Genf in einer 2019 veröffentlichten Studie, dass die Lebenserwartung 30-jähriger Männer in der Schweiz mit nur obligatorischer Schulbildung rund 5 Jahre tiefer liegt als bei Gleichaltrigen mit Uni-Abschluss. Bei 30-jährigen Frauen beträgt die Differenz 2,5 Jahre. Ein gutes Jahrzehnt zuvor hatte schon eine Studie der Uni Zürich grosse Unterschiede in der Lebenserwartung je nach Bildungsstand ergeben: Für 30-Jährige mit Hochschulbildung war sie 7,1 Jahre (Männer) bzw. 3,6 Jahre (Frauen) höher als für Gleichaltrige mit nur obligatorischer Schulbildung. Für 65-Jährige wiederum betrug dieser Unterschied laut einer 2012 publizierten Genfer Studie 2,7 Jahre bei den Männern bzw. 2 Jahre bei den Frauen.
Die Gründe für die kürzere Lebenserwartung sind laut den Studien vielfältig. Schlecht Ausgebildete haben weniger Wissen in Gesundheitsfragen – Übergewicht, Rauchen, übermässiger Alkoholkonsum und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind verbreitet. Auch arbeiten sie oft in anstrengenden, schlecht bezahlten Berufen – etwa im Gastgewerbe, Industriesektor, Bau- oder Transportwesen. Und sie wohnen eher an lärmigen, schadstoffbelasteten Lagen. Arztbesuche können sie sich weniger leisten.
Nationalrat will keine Rückverteilung
Ende Jahr beschäftigte sich das Parlament wieder einmal mit der 2. Säule. Von einer Verbesserung der Leistungen an die Versicherten war keine Rede. Kern der Vorlage: Die obligatorischen Pensionskassenrenten sollen um 12 Prozent sinken. Die Einbusse soll teils mit höheren Prämien kompensiert werden.
Auch soll die geplante Rentenkürzung über einen fixen Zuschlag für die Neurentner abgefedert werden. So würde ein Teil der Prämienerträge von Gut- zu Wenigverdienenden «zurückverteilt». Der Nationalrat erteilte dieser Idee im Dezember jedoch eine Absage. Folgt ihm der Ständerat in der kommenden Frühlingssession, ist sie vom Tisch.
Unter dem heute geltenden Recht gibt es nur eine Möglichkeit, den Rentensenkungen zu entgehen: Indem man sich bei der Pensionierung das Alterskapital auszahlen lässt. Auch Versicherte mit unterdurchschnittlicher Lebenserwartung erhalten so das ganze ersparte Geld – ohne die privilegierten Schichten unterstützen zu müssen.