Die Aargauische Kantonalbank und der Gewerbeverband verliehen im April den Jura-Cement-Fabriken in Wildegg AG den «Aargauer Unternehmenspreis». Das Zementwerk produziere «höchst ökologisch und nach dem neusten Stand der Technik». Was die Lobredner nicht sagten: Die Fabrik pustete im letzten Jahr an 172 Tagen mehr krebserregendes Benzol in die Luft als erlaubt. 2016 lagen die Emissionen an 39 Tagen über dem Grenzwert, obwohl das Messgerät des Kantons erst im Mai in Betrieb ging. Auch bei den Messungen 2014 und 2015 gab es laut dem Kanton Überschreitungen.
Im Dezember 2016 erliess der Kanton Aargau eine Sanierungsverfügung gegen Jura Cement. Die Benzolemissionen müssten «kontinuierlich gesenkt werden», um die Grenzwerte «spätestens» ab 31. Dezember 2020 «vollumfänglich einhalten zu können».
Der Kanton begründet die lange Frist damit, dass es keine Lösung «ab Stange» gebe.
Verbesserungen liessen sich in wenigen Wochen umsetzen
Jura Cement sagt, man habe im Januar das Ofensystem angepasst und die Abgaswerte gesenkt. Gemäss den Kantonsbehörden überschritten die Emissionen seit dem 9. März den Grenzwert nicht mehr. Im Februar lagen sie allerdings an 14 Tagen darüber.
Josef Waltisberg arbeitete während 31 Jahren beim Zementkonzern Holcim und war bis 2009 für die Qualitätskontrolle der weltweiten Emissionen der Zementwerke verantwortlich. Er bestreitet, dass es weitere Abklärungen oder Umbauten brauche, um den Benzolausstoss in den Griff zu kriegen: «Es ist klar, was zu tun ist.» Waltisberg rät, «weniger Pneus zu verbrennen oder die Brennkammer besser zu lüften». Das liesse sich in wenigen Wochen umsetzen. Harald Schönberger stimmt ihm zu. Der Deutsche kontrollierte über 20 Jahre lang für die EU und deutsche Behörden grosse Industrieanlagen.
Die Benzolentwicklung hat laut den beiden Experten zwei mögliche Ursachen: Entweder wird die externe Brennkammer mit Abfällen «überfüttert», um so billig Energie zu gewinnen (siehe unten). Oder es gelangt zu wenig Luft ins nachfolgende Ofensystem, um die entstandenen Schadstoffe zu eliminieren.
Auch andere Zementfabriken haben Abgasprobleme (siehe unten). Ein krasses Beispiel ist das Holcim-Zementwerk Untervaz GR: Die Fabrik emittierte 2015 bei einer Messung des Kantons 60 Prozent mehr hochgiftiges Dioxin, als in der EU erlaubt wäre. Für Waltisberg ist die Überschreitung «gravierend». Er vermutet als Ursache eine unsachgemässe Abfallverbrennung.
«Dioxine und Benzole sind schon in kleinen Mengen toxisch»
Die Schweiz führte erst 2016 einen Grenzwert für Dioxine ein. Er ist gleich hoch wie jener in der EU – nur gilt er dort bereits seit 2000. Seit 2016 wurde der Dioxingrenzwert in Untervaz nicht mehr überschritten.
Die Internationale Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Dioxin und Benzol als «krebserregend» ein. Benzol begünstigt die Entstehung von Leukämie und trägt zur Bildung des bodennahen Ozons bei. Dioxine können laut WHO Fortpflanzungs- und Entwicklungsprobleme verursachen, das Immunsystem schädigen, Hormone stören und Krebs auslösen.
Dioxinpartikel reichern sich im Boden und im Fettgewebe von Tieren an. Menschen nehmen sie mit tierischen Produkten auf. Der Zürcher Humantoxikologe Walter Lichtensteiger sagt: «Dioxine und Benzole sind schon in kleinen Mengen toxisch.»
Das Amt für Umwelt des Kantons Aargau sagt, die Benzolemissionen in Wildegg bedeuteten «für die Bevölkerung keine Gefährdung». Peter Kälin, Hausarzt und Präsident des Vereins Ärzte für Umweltschutz, widerspricht. Er fordert: «Krebsfördernde Substanzen gehören nicht in die Luft. Die Behörden sollen ihre Arbeit machen.»
Pikant: Die Kantone verlassen sich weitgehend auf Messungen der Zementfabriken. Die Umweltbehörden im Aargau, in Neuenburg und in der Waadt erklären auf Anfrage, die Messdaten einmal im Jahr zu prüfen, die Behörden von Graubünden und Bern tun das monatlich. Die Kantone lassen die Emissionen aber nur einmal im Jahr von externen Firmen nachmessen. Einzig der Kanton Bern führte von 2014 bis 2017 elf Kontrollen durch. Alle Kantone kündigen ihre Messungen vorher an. Die Fabriken haben laut Schönberger «daher Zeit, ihren Brennstoffmix so einzustellen, dass die Emissionen bei den Tests sinken».
Hohe Grenzwerte – und trotzdem häufige Überschreitungen
saldo hat die Emissionsdaten der sechs Schweizer Zementwerke verlangt – die Fakten.
Ammoniak (NH3): Der Stoff schädigt Boden und Wasser, verschlechtert die Atemluft und verschärft den Klimawandel. Der NH3-Gehalt in der Abluft des Holcim-Werks in Siggenthal AG überschritt 2014 an 103 Tagen den Grenzwert. 2016 gab es 91 Überschreitungen, letztes Jahr 43. Bei den Kontrollmessungen der Kantone von 2014 bis 2016 lag der Ausstoss in den Werken in Wildegg, Cornaux NE und Reuchenette BE deutlich über dem Grenzwert. Im Holcim-Werk in Siggenthal war er 2016 fast vier Mal höher als erlaubt.
Staub: Schädigt die Atmungsorgane und begünstigt Herzinfarkte. Das Holcim-Werk in Untervaz stiess im Jahr 2014 an zwölf Tagen zu viele Partikel aus, 2017 an vier Tagen, das Holcim-Werk in Siggenthal 2016 an zwei Tagen.
Schwefeldioxid (SO2): Ein stechend riechendes, wasserlösliches Gas, das Mensch und Umwelt beeinträchtigt. Holcim Siggenthal emittierte 2016 laut Kanton an 11 Tagen zu viel SO2.
Stickstoffoxide (NOX): Reizen und schädigen die Atmungsorgane und fördern die Klimaerwärmung. Der Ausstoss des Holcim-Werks in Siggenthal war 2016 an zwölf Tagen zu hoch, 2017 an drei Tagen. In Untervaz 2016 zweimal, 2017 dreimal.
Flüchtige organische Verbindungen (VOC): Ein Sammelbegriff für teils umwelt- und gesundheitsgefährdende Stoffe wie den Ozonkiller Methan. 2017 emittierte Jura Cement Wildegg an 113 Tagen mehr VOC als erlaubt, 2016 an 35 Tagen. Das Werk in Reuchenette blies 2017 eine Woche lang zu viel Benzol und VOC in die Luft.
Der Schweizer Grenzwert für Schwefeldioxid ist zehn Mal höher als in der EU, jener für flüchtige organische Verbindungen acht Mal höher. Und der Staubgrenzwert liegt in der Schweiz doppelt so hoch wie in Deutschland.
Schmutzige Abfallgeschäfte
Die sechs Schweizer Zementwerke verbrannten im vergangenen Jahr 335 000 Tonnen Abfall – mehr als je zuvor. Sie deckten damit laut dem Verband Cemsuisse 63 Prozent ihres Energiebedarfs.
Das ist lukrativ: Die Fabriken sparen so Ausgaben für Brennstoffe und kassieren laut Insidern pro Tonne Abfall erst noch 80 bis 100 Franken oder mehr. Die Verbrennung von Pneus, Lösungsmitteln, Klärschlamm und anderen Abfällen verursacht laut dem deutschen Umweltexperten Harald Schönberger häufiger Abgasprobleme als der Einsatz anderer Brennstoffe.
Peter Kälin, Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz, kritisiert, dass Schweizer Zementwerke schlechtere Luftreinhaltesysteme haben als Kehrichtverbrennungsanlagen.