Das Leben des damals 16-jährigen Ciril Keller verändert sich am 15. Juni 2014 für immer. Nach einem Fest im Anschluss an ein Grümpelturnier macht er sich gegen 2 Uhr morgens auf den Heimweg. Eine Mitfahrgelegenheit gibt es nicht mehr, auch der letzte Bus ist bereits abgefahren.
Ein Kollege leiht Ciril ein Skatebord aus, auf dem er sitzend am rechten Strassenrand den Berg hinunter nach Hause fährt. Da erfasst ihn ein Auto mit 80 Stundenkilometern von hinten und schleift ihn unter dem Wagen rund 100 Meter mit. Ciril erleidet unter anderem ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, sein linkes Bein wird amputiert.
Versicherung hält Verhalten für «Wagnis»
Der Jugendliche liegt mehrere Wochen im Koma. Bis heute wurde er 19-mal operiert. Mittlerweile meistert Ciril sein Leben trotz körperlicher Einschränkungen. Sein Ziel: Er will als Bauer arbeiten und dereinst den elterlichen Hof übernehmen. Inzwischen hat Ciril die Ausbildung zum Agrarpraktiker abgeschlossen.
Die Unfallverursacherin gab später an, sie habe ein Rumpeln unter dem Auto festgestellt. Trotzdem hielt sie nicht an. Sie wurde wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und vorsätzlichen pflichtwidrigen Verhaltens beim Unfall zu einer Geldstrafe und zu einer Busse verurteilt.
Cirils Mutter erinnert sich: «Mein Sohn lag noch im Koma, und es war nicht klar, ob er überleben würde. Schon in dieser Zeit teilte uns die Unfallversicherung mit, dass sie die Taggelder kürze. Das war herzlos.»
Als Lehrling war Ciril obligatorisch gegen Freizeitunfälle versichert. Die Unfallversicherung verfügte aber die Kürzung des Taggelds um 50 Prozent mit der Begründung, Cirils Verhalten sei ein «Wagnis» gewesen. Bei Freizeitunfällen haben Versicherer die Möglichkeit, Geldleistungen wie Taggelder und Renten zu kürzen. Wagnisse sind laut Verordnung des Bundesrats «Handlungen, mit denen sich Versicherte einer besonders grossen Gefahr aussetzen, ohne die Vorkehr zu treffen oder treffen zu können, die das Risiko auf ein vernünftiges Mass beschränken».
«Minderjähriger ist auf Schutz angewiesen»
Der Anwalt von Ciril sieht im Verhalten des 16-Jährigen kein Wagnis. Rechtsanwalt Roger Peter erhob deshalb Beschwerde gegen die Kürzung der Versicherungsleistungen. Der Fall ist zurzeit am Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz hängig. Für den Zürcher Anwalt liegt in Cirils Fall kein Wagnis im Rechtssinne vor, weil sich der Jugendliche nicht wissentlich einer besonders grossen Gefahr ausgesetzt habe, als er sich aufs Rollbrett setzte.
Zudem ist Peter der Auffassung, dass eine Verweigerung oder Kürzung von Geldleistungen mit dem in der Bundesverfassung verankerten Schutzanspruch von Minderjährigen nicht vereinbar ist: «Ein durch einen Unfall behinderter Minderjähriger ist auf ganz besonderen Schutz und Förderung angewiesen. Werden Geldleistungen oder Schadenersatz verweigert oder gekürzt, so werden ihm dieser Schutz und diese Förderung nicht gewährt. Damit ist die Entwicklung und Existenz des behinderten Minderjährigen längerfristig gefährdet.»
Verbot der Taggeld-Reduktion gefordert
Eine Kürzung der Unfallrente ist lebenslang wirksam. Ciril hat eine statistische Lebenserwartung von rund 78 Jahren. Eine Kürzung über eine so lange Zeit sei mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht vereinbar, sagt Peter.
Auch das öffentliche Interesse spreche dafür, solche Kürzungen bei Jugendlichen aufzuheben. Denn bei schwer Verunfallten bestehe die Gefahr, dass statt der Versicherung die Steuerzahler über Ergänzungs- und Sozialhilfeleistungen zur Kasse gebeten würden.
Peter fordert, dass die Verweigerung und Kürzung von Geldleistungen, Schadenersatz und Genugtuung bei Minderjährigen im gesamten Versicherungs- und Haftpflichtrecht verboten wird. Das Problem: «Viele Bundesparlamentarier sind direkt oder indirekt mit der Versicherungswirtschaft verbunden», kritisiert Peter. «Daher glaube ich nicht, dass sich genügend National- und Ständeräte für ein solches Verbot einsetzen werden. Ciril und viele andere betroffene Minderjährige hätten es aber verdient.»
Der K-Tipp wollte wissen, wie sich die Mitglieder der Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit in National- und Ständerat zu dieser Forderung stellen.
Auf die Anfrage reagierte einzig der Tessiner FDP-Nationalrat Ignazio Cassis: «Ich finde es grundsätzlich falsch, Minderjährige aus der Verantwortung zu ziehen. Es ist keine gute gesellschaftliche Entwicklung, wenn Minderjährige immer grössere Freiheiten geniessen, die dazugehörende Verantwortung aber nicht tragen. Die Gefahr ist gross, verwöhnte Erwachsene zu produzieren.»
Parlament: Verbandelt mit Versicherern
Ignazio Cassis ist Vorstandspräsident von Curafutura, dem Verband der Versicherungen CSS, Helsana, Sanitas und KPT. Laut NZZ vom 14. März stehen zurzeit 34 National- und Ständeräte in einer unmittelbaren Abhängigkeit zur Versicherungswirtschaft. Davon sitzen 11 National- und 6 Ständeräte in den parlamentarischen Kommissionen. Sie haben dort fast die Hälfte der Stimmen.