Die Hausärztin verordnete saldo-Leserin Beatrice L. gleich zwei Vitamin-D-Tests innerhalb von acht Monaten. Sie kosteten je 77 Franken. Im Juni 2018 entsprach die Vitamin-D-Konzentration im Blut der 55-jährigen Baselbieterin dem Soll-Wert. Im Februar dieses Jahres war er nur leicht darunter. Trotzdem verschrieb die Ärztin in beiden Fällen Vitamin-D-Tropfen. Die Tests und die Tropfen kosteten zusammen rund 190 Franken.
Das ist kein Einzelfall: Allein im Jahr 2017 verordneten Hausärzte in der Schweiz fast 1,2 Millionen solcher Vitamin-D-Tests. Im Jahr 2008 waren es erst 9500 Tests gewesen. Das zeigen neue Zahlen des Bundesamts für Gesundheit. Das heisst: In neun Jahren stieg die Anzahl Tests auf das 123-Fache. Jeder siebte Versicherte wurde getestet. Zum Vergleich: In Deutschland war es nur jeder siebzehnte Das zeigen Zahlen des wissenschaftlichen Diensts der Krankenkasse AOK in Berlin.
Die Schweizer Krankenkassen zahlten 2017 für diese Tests laut dem Bundesamt 63 Millionen Franken. Zusätzlich erstatteten sie im gleichen Jahr für Vitamin-D-haltige Präparate laut der Brancheninformationsfirma Coge Gmbh 75 Millionen Franken – 9 Prozent mehr als im Vorjahr. Total gaben die Prämienzahler also 138 Millionen Franken für Vitamin D aus. Darin sind die Ausgaben der Bevölkerung aus dem eigenen Sack für die rezeptfreien Präparate und Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin D nicht eingerechnet.
Im Winter zapft der Körper die gebildeten Reserven an
Für Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich, sind fast alle Vitamin-D-Tests und Vitamin-D-Gaben «hinausgeworfenes Geld». Die Datenlage zeige bei gesunden Leuten keinen Nutzen. Auch Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber des Fachblatts «Pharma-Kritik», sagt: «Für Leute jeglichen Alters, die nicht im Spital sind, bringt zusätzliches Vitamin D mit grösster Wahrscheinlichkeit gar nichts.»
Der Körper deckt mit Hilfe des natürlichen Sonnenlichts im Sommer den Bedarf an Vitamin D locker selbst. Überschüssiges Vitamin D deponiert er vor allem im Fett- und Muskelgewebe. Diese Reserven mobilisiert er im Winter. Und zwar dann, wenn der Vitamin-D-Pegel bei vielen Leuten etwas unter den Wert des Sommers fällt. Gesundheitliche Folgen hat das laut Rosemann nicht. Nur ein massiver Mangel an Vitamin D könne zu Knochenerweichung oder Osteoporose beitragen.
Nur bei Menschen nötig, die nicht nach draussen kommen
Repräsentative Studien des deutschen Robert-Koch-Instituts an rund 7000 Erwachsenen in den Jahren 2008 bis 2011 und an rund 10 000 Kindern in den Jahren 2003 bis 2006 zeigten: Nur 15 Prozent der Getesteten hatten massiv zu wenig Vitamin D.
Eine Überblicksstudie aus Neuseeland und Schottland belegte 2018 zudem, dass die Vitamin-D-Zufuhr keine Brüche oder Stürze bei Senioren verhindert (saldo 19/2018).
Für Rosemann ist klar: Einzig bei Säuglingen und Senioren, die nie im Freien sind, kann die Vitamin-D-Zufuhr sinnvoll sein. Das gilt auch für Menschen, die wegen einer Osteoporose bereits einen Knochenbruch hatten. Anderen reiche es, regelmässig ans Tageslicht zu gehen.
Vitamin-D-Ergänzungsmittel bieten zudem kaum Schutz vor anderen Krankheiten. Eine Anfang Jahr im Fachmagazin «New England Journal of Medicine» veröffentlichte Untersuchung der Harvard Medical School zeigt, dass die Vitamin-D-Zufuhr Menschen über 50 nicht vor Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützt. Zuvor belegte 2017 eine französische Überblicksstudie, dass Vitamin-D-Präparate auch keinen Einfluss auf die Entstehung von Diabetes, Tuberkulose oder Gemütsstörungen haben.
Bundesamt sollte Empfehlungen an neue Erkenntnisse anpassen
Problematisch ist laut Etzel Gysling, dass viele Mittel keineswegs harmlos sind (siehe Kasten). Trotzdem empfiehlt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit über 60-Jährigen, im Winter zusätzlich Vitamin D einzunehmen. Erwachsene bis 60 und Kinder ab drei Jahren sollten eine Einnahme prüfen. Das Amt begründet das damit, dass eine Unterversorgung bei Kindern zur Wachstumserkrankung Rachitis und bei Erwachsenen zu Knochenkrankheiten führe. Die Empfehlungen sind seit 2012 unverändert. Für Professor Rosemann ist das unverständlich. Er fordert, «die Empfehlungen endlich der überzeugenden neuen Datenlage anzupassen».
Das Bundesamt für Gesundheit gibt zu, dass die Empfehlungen «möglicherweise» nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Fachleute würden zurzeit alle Studien auswerten, um zu klären, ob Vitamin-D-Präparate und Tests den Patienten wirklich nützen. Es hänge vom Ergebnis ab, ob die Krankenkassen die Kosten auch künftig übernähmen.
Zu viel Vitamin D kann schaden
Viele Konsumenten zahlen Vitamin-D-Präparate aus dem eigenen Sack. Doch aufgepasst: Rezeptfreie Nahrungsergänzungsmittel aus der Apotheke oder von Webshops sind oft hoch dosiert. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit empfiehlt Erwachsenen pro Tag eine Zufuhr von 15 Mikrogramm Vitamin D. Bei über 60-Jährigen sind es 20 Mikrogramm. Wer regelmässig – zusammen mit seinem Essen – mehr Vitamin D aufnimmt, riskiert Kalziumablagerungen in Gefässen und Nieren.
Hält man sich an die Empfehlungen der Hersteller für die tägliche Zufuhr, nimmt man schnell zu viel Vitamin D auf. Zum Beispiel enthält eine empfohlene Tagesdosis des Präparats «Vitamin D3 2000 I.E.» von Zein Pharma 49,1 Mikrogramm Vitamin D. Auch in der Tagesdosis von «Abtei Vitamin D3 Forte Plus 1600 i.E.» stecken 40 Mikrogramm Vitamin D.