Untätige Industrie
Die Verpackungshersteller hätten ihre gifthaltigen Deckel seit Jahren ersetzen müssen. Getan haben sie nichts.
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K-Tipp 7/2006
05.04.2006
Rolf Muntwyler - rolf.muntwyler@ktipp.ch
Wenn ein Wirtschaftszweig gesetzliche Vorschriften für seinen Bereich verhindern will, spielt er gerne den Trumpf «Selbstkontrolle» aus. Und macht Vorschläge, wie die Branche selber über Qualität und Sicherheit der Produkte wachen werde. Bei Lebensmitteln ist dies sogar gesetzlich festgeschriebene Pflicht.
Bezüglich Selbstkontrolle hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Zusammenhang mit Weichmachern in Tomaten- und Pestosaucen (siehe K-Tipp 6/06) amtlich festgehalten: D...
Wenn ein Wirtschaftszweig gesetzliche Vorschriften für seinen Bereich verhindern will, spielt er gerne den Trumpf «Selbstkontrolle» aus. Und macht Vorschläge, wie die Branche selber über Qualität und Sicherheit der Produkte wachen werde. Bei Lebensmitteln ist dies sogar gesetzlich festgeschriebene Pflicht.
Bezüglich Selbstkontrolle hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Zusammenhang mit Weichmachern in Tomaten- und Pestosaucen (siehe K-Tipp 6/06) amtlich festgehalten: Die durch Deckelbeschichtung verunreinigten Lebensmittel in Gläserkonserven zeigten, «dass die gesetzlich vorgesehene Selbstkontrolle nicht reibungslos funktioniert» - was massiv untertrieben ist.
Deutlicher sagt es der Bündner Kantonschemiker Daniel Imhof: «Die Industrie hat ihre Selbstkontrolle nicht wahrgenommen.» Die Deckelhersteller hätten das Problem schon vor zehn Jahren angehen müssen. Imhof war vor zwei Jahren im Zürcher Kantonslabor massgeblich an den alarmierenden Funden von Weichmachern in Gläsern beteiligt. Neben viel zu viel epoxydiertem Sojaöl (Esbo) enthielten die Konserven höchst bedenkliche Phthalate.
Aufgrund der Messwerte hätten Dutzende Konserven im Glas aus den Verkaufs-regalen verschwinden müssen - auch eingemachte Oliven- und Artischockenpasten, in Öl eingelegte Artischocken, Oliven, Tomaten und anderes Gemüse.
Weiterhin Waren mit schädlichen Stoffen
Das aber konnten und wollten die Behörden in der Schweiz und in der EU nicht zulassen. Allein das Entfernen der konservierten Lebensmittel in Gläsern aus Schweizer Läden hätte einen Schaden in Millionenhöhe bedeutet.
Am schlimmsten getroffen hätte das nicht die Hersteller der beanstandeten Gläserdeckel, sondern Bauern und unzählige Verarbeitungsbetriebe. Bei einem Verkaufsstopp hätten sie ihre Ware zirka zwei Jahre lang nicht mehr verarbeiten und verkaufen können.
Um dieses Szenario zu verhindern, vereinbarte das BAG mit den Herstellern, den Vollzug der gesetzlichen Bestimmungen für Esbo und für bestimmte Phthalate faktisch auszusetzen und eine Übergangsfrist bis Ende November 2006 zu gewähren.
Die Übergangsfrist sorgt für üblen Nachgeschmack: Die Wirtschaft wird geschützt, dem Konsumenten wird weiterhin Ware mit schädlichen Inhaltsstoffen vorgesetzt. Und das weit über November 2006 hinaus. Bis nämlich alle Gläser verkauft sind, die bis dahin abgefüllt werden, ziehen noch viele Monate ins Land.
Damit nicht genug: Die Deckel-Hersteller verhandeln mit dem BAG, damit sie die nicht gesetzeskonformen Deckel länger einsetzen können. Im Juni wird sich zeigen, ob das BAG standhaft bleibt.
Verpackung wird ein Geheimnis bleiben
Ein einziger Hersteller bringt seit Oktober 2005 Deckel auf den Markt, welche die Grenzwerte einhalten. Er hat nämlich an der Verbesserung der Deckeldichtung gearbeitet, bevor das Zürcher Kantonslabor die bedenklichen Resultate veröffentlichte.
Stossend ist, dass die Hersteller mit dem Segen der EU die Zusammensetzung ihrer Verpackungen nicht nennen. Beim Weichmacherproblem legten sie die Zusammensetzung der Beschichtungen erst offen, als ein Verkaufsverbot für Konserven im Glas drohte.
Trotz allem geht es weiter wie gehabt: Aus welchen Substanzen Folien, Deckel und Becher hergestellt sind, werden weiterhin weder Lebensmittelhersteller noch Detaillisten noch Konsumenten erfahren. Auch die Behörden gelangen nur mit grösster Mühe an solche Informationen - es sei denn, ein Kantonslabor spüre die nächste bedenkliche Substanz auf.