Versicherungen zahlen oft zu wenig
Versicherer gehen häufig von einer zu kurzen Lebenszeit von Gegenständen aus - und sparen so viel Geld auf Kosten ihrer Kunden.
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K-Tipp 1/2003
15.01.2003
Thomas Müller - tmueller@ktipp.ch
Mehr als 30 Jahre lang hatte Dietrich Borchers aus Bolligen BE eine Privathaftpflicht-Versicherung bei der Mobiliar. Doch nun ist es mit seiner Treue vorbei: Borchers hat gekündigt - aus Ärger.
Ursache ist ein Missgeschick, das ihm im letzten März passiert ist. Damals half er seiner Bekannten Annette Ruepp beim Zügeln. «Ich stolperte und der Fotokopierer der Marke Ricoh glitt mir aus den Händen», erinnert sich Borchers. Die Reparatur kostete rund 600 Franken.
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Mehr als 30 Jahre lang hatte Dietrich Borchers aus Bolligen BE eine Privathaftpflicht-Versicherung bei der Mobiliar. Doch nun ist es mit seiner Treue vorbei: Borchers hat gekündigt - aus Ärger.
Ursache ist ein Missgeschick, das ihm im letzten März passiert ist. Damals half er seiner Bekannten Annette Ruepp beim Zügeln. «Ich stolperte und der Fotokopierer der Marke Ricoh glitt mir aus den Händen», erinnert sich Borchers. Die Reparatur kostete rund 600 Franken.
«Das Ganze war mir sehr unangenehm», erzählt der Zügelhelfer. «Aber ich war mir sicher, dass die Mobiliar Annette Ruepp den Schaden ersetzen würde.»
Borchers täuschte sich. Die Mobiliar teilte ihm mit, ein Kopierapparat habe eine durchschnittliche Lebensdauer von fünf bis acht Jahren. Und: «Da das beschädigte Gerät bereits neun Jahre alt und somit amortisiert war, kann Frau Ruepp keine Ansprüche mehr gegen Sie stellen.» Also zahle auch die Versicherung nichts.
In der Tat: Haftpflichtversicherungen müssen nur so viel entschädigen, wie der Schadenverursacher selber berappen müsste, wenn er keine Versicherung hätte. Und dieser schuldet höchstens den Zeitwert der beschädigten Sache.
Bloss: Wie kommt die Mobiliar auf eine Lebensdauer des Kopierers von fünf bis acht Jahren? «Das sind Erfahrungswerte», sagt Pressesprecher Kurt Messerli. Zwar seien Kopiergeräte in der Amortisationstabelle der Mobiliar nicht ausdrücklich erwähnt, aber der zuständige Sachbearbeiter habe wohl beim Hersteller nachgefragt.
Hat er dies tatsächlich getan, dann hat er eine andere Antwort erhalten als der K-Tipp. Karl Künzle, Einkaufschef der Firma Celltec, des Generalvertreters von Ricoh-Kopierern, spricht nämlich von einer Lebensdauer von «durchschnittlich zehn Jahren bei normalem Gebrauch». Die rund 8000 Kopien, die Ruepp in den neun Jahren mit ihrem Gerät gemacht hat, seien «vom Volumen her gar nichts».
Da stellt sich die Frage: Gehen die Versicherungen von zu tiefen Amortisationszeiten aus, um im Schadenfall weniger zahlen zu müssen?
Der K-Tipp hat sich bei sieben Gesellschaften nach der Amortisationstabelle für Gegenstände wie Kleider, Brillen und Fernseher erkundigt - und ist auf eine Mauer des Schweigens gestossen. «Diese Tabelle betrachten wir als internes Arbeitsinstrument», sagt Mobiliar-Sprecher Kurt Messerli. Die Versicherer Allianz, Basler, Generali, Helvetia-Patria, Winterthur und Zürich geben an, keine solchen Tabellen zu haben.
«Das kann nicht sein», widerspricht ein Branchenexperte. «Irgendwie müssen sie ja den Zeitwert bestimmen - und ohne Tabelle wäre das reine Willkür.»
Pikant: Der Insider arbeitet bei einer Versicherung, die behauptet, keine Amortisationstabelle zu haben. Er hat dem K-Tipp die Tabelle überlassen, an der sich seine eigene Versicherung und die meisten anderen orientieren (siehe Tipps-Kasten).
Ein Vergleich mit den Angaben der Fachverbände zeigt Erstaunliches:
- Beispiel Fernseher: Ge-mäss Amortisationstabelle «lebt» ein Fernseher durchschnittlich fünf bis zehn Jahre. Demgegenüber sagt Raymond Vonesch, Präsident des Verbands Schweizerischer Radio- und Televisions-Fachgeschäfte: «Ein Fernseher sollte auf jeden Fall zehn Jahre halten. Fünf Jahre sind zu wenig.»
- Beispiel Brillen: Laut Tabelle beträgt ihre Lebenserwartung drei bis sechs Jahre. Das sei für Brillen mit Kunststofffassung angemessen, sagt Dominic Ramspeck von der Infostelle des Schweizer Optikerverbands. «Eine Brille mit Metallfassung hält aber je nach Gebrauch vier bis zehn Jahre.» Einige Versicherungen verzichten bei günstigen Brillen auf einen Amortisationsabzug.
- Beispiel Fotokameras: Sie werden laut Tabelle fünf bis zehn Jahre alt. Für analoge Spiegelreflexkameras sei das zu wenig, sagt Paul Schenk, Präsident des Verbands Fotohandel Schweiz: «Solche Kameras halten ohne weiteres acht bis zwölf Jahre.»
Die Beispiele zeigen: Versicherungen gehen beim Berechnen des Zeitwerts häufig von einer zu kurzen Lebensdauer aus. Da eine geringere Lebensdauer automatisch zu einer tieferen Entschädigung führt, sparen sie so einen Haufen Geld.
Dietrich Borchers ist enttäuscht. «Wenn ich einen Schaden verursache, stehe ich dafür ein. Und von meiner Versicherung erwarte ich, dass sie mir dabei hilft. Sonst brauche ich keine.»
Wer bei Gratisarbeit etwas beschädigt, muss nicht für den ga nzen Schaden zahlen
Freiwillige Zügelhelfer müssen nur einen Teil eines Schadens bezahlen - ihre Haftpflichtversicherung auch.
Die Haftung für einen Schaden wird laut Obligationenrecht «milder beurteilt, wenn das Geschäft für den Haftpflichtigen keinerlei Vorteil bezweckt». Im Klartext: Wer jemandem einen Gratisdienst erweist, muss nicht für den ganzen Schaden aufkommen.
Für versicherte Zügelhelfer kann das unangenehm sein. Denn ihre Haftpflichtversicherung muss ebenfalls nur diese «milde» Entschädigung zahlen. Sie müssen sich also entscheiden, ob sie die Differenz selber zahlen oder den Zügelnden möglicherweise verärgern wollen.
Diesem Dilemma trägt beispielsweise die Basler Versicherung Rechnung. Sie verzichtet bei Schäden unter 1000 Franken freiwillig auf den so genannten Gefälligkeitsabzug. Andere Versicherungen ziehen zwischen 20 und 33 Prozent ab.
Überprüfen Sie die Lebensdauer!
Haftpflichtversicherungen zahlen nur den Zeitwert einer zerstörten Sache. Deshalb sollten Geschädigte darauf achten, von welcher Lebenserwartung die Versicherung ausgeht.
Einige Gesellschaften führen im Kleingedruckten spezielle Amortisationstabellen auf, beispielsweise für Fahrräder, Ski und Snowboards. Ist dort nichts geregelt, orientieren sich die Versicherungen meist an folgender Tabelle:
- Möbel: 10 Jahre
- Kleider: 3 Jahre
- Brillen: 3 bis 6 Jahre, je nach Modell und Preis
- Velos: 10 Jahre
- Fernseher: 5 bis 10 Jahre, je nach Modell und Preis
- PC: 2 bis 5 Jahre, je nach Modell und Preis
- Foto/Video: 5 bis 10 Jahre, je nach Modell und Preis
- Autos: Nach Eurotax-Tabellen
- Einrichtungsgegenstände wie Teppiche, Tapeten etc.: gemäss Lebensdauer-Tabelle des Mieter- respektive Hauseigentümerverbandes
Beispiel: Eine Spiegelreflexkamera hat eine Le-benserwartung von zehn Jahren. Zerstört jemand die Kamera aus Versehen nach zwei Jahren, beträgt der Amortisationsabzug 2/10. Der Eigentümer hat also vom Schadenverursacher oder von seiner Privathaftpflicht-Versicherung 8/10 oder 4/5 des Neupreises zugut.
Wenn Sie mit der Entschädigung der Versicherung nicht einverstanden sind, gehen Sie wie folgt vor:
- Überprüfen Sie die Lebensdauer, von der die Versicherung ausgegangen ist. Auskünfte erhalten Sie zum Beispiel im Verkaufsgeschäft oder beim Fachverband. Verlangen Sie eine schriftliche Bestätigung, für welchen Preis das fragliche Gerät auf dem Markt verkauft werden könnte. Schicken Sie diese Bestätigung der Versicherung.
- Suchen Sie in einschlägigen Publikationen (Internet, «Fundgrube», «Automobilrevue») nach vergleichbaren Occasions-Angeboten, mit denen Sie den Wert der zerstörten Sache belegen können. Fordern Sie von der Versicherung, dass sie diesen Verkehrswert ersetzt oder Realersatz leistet.