Wer im Bahnhof umsteigt und in der Migros noch rasch ein Sandwich kauft oder in der Apotheke Arzneimittel abholt, wird künftig bis in die Einkaufsläden gefilmt. Mit den ausgewerteten Daten wollen die SBB die Umsätze in den Bahnhofsläden steigern – oder wie es in internen Dokumenten wörtlich heisst: die «Abschöpfungsquote» pro Reisenden erhöhen. Der K-Tipp machte Mitte Februar öffentlich, dass die SBB neue Überwachungsprogramme und -kameras bestellen (K-Tipp 3/2023).
Zugpassagiere sind empört. K-Tipp-Leser Robert Schaller, Gerlafingen SO, zum Beispiel schreibt: «Wir steuern auf chinesische Verhältnisse zu.» Roland Hauri aus Ederswiler JU ist überzeugt: «Ethik scheint bei den SBB ein Fremdwort zu sein.» Und Leser Thomas Schneeberger-Kräuchi aus Hinterkappelen BE findet: «Solche Praktiken gehören unbedingt verboten».
SBB versuchen das Projekt als Vorteil für Reisende zu verkaufen
Nach Erscheinen des K-Tipp-Artikels gab es in der Öffentlichkeit einen Aufschrei. Die SBB versuchen nun, das Überwachungsprojekt als Vorteil für Reisende zu verkaufen. Im Westschweizer Fernsehen RTS sagte Stephane Droux, Vizechef SBB Immobilien: «Wir brauchen das Kundenmesssystem, um die Sicherheit und Sauberkeit an Bahnhöfen zu verbessern. Wir wollen keine persönlichen Daten der Passanten wissen.»
Tatsache ist: In den Ausschreibungsunterlagen für die Software-Lieferanten fordern die SBB von den Betreibern der Kameras eine «eindeutige Identifikation der Person während des gesamten Aufenthalts am Bahnhof». Ausgewertet werden sollen auch Alter, Geschlecht, Grösse, mitgeführtes Gepäck und Gegenstände wie Kinderwagen, Rollstuhl und Velo.
In der Stadt Schaffhausen, deren Bahnhof ab September 2023 zum ersten vollüberwachten Bahnhof werden soll, regt sich bereits Widerstand. So will SP-Co-Präsident Thomas Weber wissen, ob der Stadtrat vorgängig von den SBB über die Überwachungspläne informiert worden sei: «Ist der Stadtrat bereit, die Einführung der Gesichtserfassung am Bahnhof Schaffhausen zu verhindern?»
Bundesrat muss sich zur SBB äussern
Vorstösse sind auch im eidgenössischen Parlament hängig. Nationalrat Roland Büchel (SVP/SG) fordert Verkehrsminister Albert Rösti auf, das SBB-Überwachungsprojekt zu stoppen.
Büchel reicht in der Frühlingssession Fragen dazu ein: «Wer bewilligt solche Überwachungsaktionen?» Und: «Hält die SBB daran fest, diese Aktivitäten ‹unter Putz›, also möglichst verdeckt, durchzuführen?» Diese und andere Fragen wird der Bundesrat am Montag, 6. März, beantworten müssen.
Die Pressestelle der SBB beteuert: «Wir wollen keine Gesichtserkennung einführen.» In den Ausschreibungsunterlagen berichtet SBB Immobilien aber, dass sie bereits heute an 27 Bahnhöfen 743 Überwachungskameras einsetze – zum Beispiel das Modell Xovis PC2S.
Verkauft wird diese Kamera unter anderem so: «Der Sensor nutzt Algorithmen zur Erfassung der Gesichtskonturen, des oberen Körpers sowie der Bewegungsart der Person.» Die SBB schreiben, diese Funktion werde nicht genutzt.
Anonymisierung kann rückgängig gemacht werden
Die gleiche Kamera wird in einer Verkaufsdokumentation, die dem K-Tipp vorliegt, so beworben: «Datenschutz 100 % gewährleistet. Rückstellung der Anonymisierung nur mit Master Key». Mit anderen Worten: Es ist bereits heute möglich, die Anonymisierung von Daten nachträglich wieder rückgängig zu machen – die Daten also wieder eindeutig einer Person zuzuordnen.
Die SBB schreiben: «Die Hersteller haben uns versichert, dass keine De-anonymisierung möglich ist.» Und: «Wenn es auch nur ein Restrisiko beim Datenschutz gibt, werden die SBB dieses nicht eingehen und die Beschaffung auf das beschränken, was den Datenschutz gewährleistet.»
Die Organisation Algorithm Watch beschäftigt sich kritisch mit Überwachungssystemen. Für Leiterin Angela Müller ist klar: «Auch wenn die SBB jetzt sagen, sie würden ihre Passagiere nicht ausspionieren: Sie schaffen nachweisbar die Infrastruktur, um dies tun zu können. Das gilt es zu verhindern.»
«Betroffene könnten vor Gericht ziehen»
Monika Simmler ist Professorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen. Sie befasst sich mit modernen Techniken der Überwachung.
Die SBB verlangen von den Betreibern der Überwachungskameras eine «eindeutige Identifikation der Person» am Bahnhof. Ist das zulässig?
Die Ausschreibung der SBB zeigt, dass eine grosse Menge sensibler Daten gesammelt werden soll. Trotz versprochener Anonymisierung wollen die SBB angeblich Personen- und Bewegungsprofile erstellen. So wissen sie, wo eine Person einkauft und mit wem sie unterwegs ist. Ich gehe davon aus, dass es zu Eingriffen in unsere Grundrechte kommt, allenfalls zu schweren.
Wo sehen Sie die Gefahren der Überwachung?
Wo sensible Datensätze gesammelt werden, gibt es ein Missbrauchspotenzial. Das alles hat ja zum Ziel, möglichst viele Informationen über uns zu sammeln und Rückschlüsse über unser Verhalten zu machen – und uns für die Zukunft allenfalls zu beeinflussen. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, wie weit wir hier gehen wollen. Dass die SBB vorpreschen, überrascht. Vor allem weil die Überwachung kommerziell motiviert scheint.
Die SBB wollen, dass die Installation der Kameras «visuell möglichst dezent» erfolgt. Sprich: Reisende sollen nichts davon mitbekommen. Ist das zulässig?
Eine verdeckte Überwachung ist immer gravierender als eine offene. Die SBB möchten uns möglichst ungestört beobachten. Das macht die Überwachung heikler. Die für die SBB geltende Videoüberwachungsverordnung hält fest, dass die Überwachung stets erkennbar erfolgen muss.
In ihrer Ausschreibung schreiben die SBB, dass Personendaten mit den Einkäufen in Bahnhofsläden verknüpft werden. Wo sehen Sie hier die Gefahr?
Die Möglichkeit, die Datensätze mit anderen zu verknüpfen, illustriert das grosse Überwachungs- und Missbrauchspotenzial, das in solchen Massnahmen steckt. Allein mit der Überwachung von Personenströmen könnten wir uns wohl noch abfinden. Wir müssen uns aber immer die Frage stellen, mit welchen weiteren Daten man diese Informationen noch verknüpfen kann. Erst wenn man sie verknüpft, werden solche Datensätze kommerziell spannend.
Welche Möglichkeiten hat der Bürger?
Wenn die SBB an Bahnhöfen tatsächlich Personendaten und Bewegungsprofile im grossen Stil sammeln oder Technologie zur Gesichtserkennung einsetzen, werden wir nicht um eine gerichtliche Überprüfung herumkommen. Alle Betroffenen könnten vor Gericht ziehen.
Offener Brief an die SBB: «Keine Massenüberwachung an Schweizer Bahnhöfen»
Algorithm Watch und die Digitale Gesellschaft Schweiz haben einen offenen Brief formuliert, den alle Bürger unterschreiben können. Darin wird SBB-Chef Vincent Ducrot aufgefordert:
- Keine Infrastruktur zur biometrischen Identifikation in Bahnhöfen zu installieren
- Keine Datenerfassung mit Gesichtserkennung vorzunehmen
- Die Öffentlichkeit transparent zu informieren und die SBB-Datenschutz-Folgeabschätzung zu veröffentlichen.
Die Petition kann hier unterzeichnet werden: Algorithmwatch.ch/de/offener-brief-sbb/