Die deutsche Verbraucherzentrale hat vergangenes Jahr die Allgemeinen Vertragsbedingungen (AGB) des Internet-Bezahldiensts Paypal untersucht. Die Konsumentenschützer zählten über 20 000 Wörter in 1000 Sätzen. Der längste Satz enthielt 111 Wörter. Auf dem Handy muss man 330 Mal scrollen, bis man den ganzen Text gelesen hat. Ein Durchschnittsleser braucht dafür 80 Minuten. Fazit der deutschen Konsumentenschützer: Die AGB sind «unverständlich und unzumutbar». Deshalb reichten sie im Sommer in Köln Klage gegen Paypal ein. Das Unternehmen müsse auf die überlangen AGB verzichten.
In der Schweiz gab es noch keinen ähnlichen Prozess. Das Obergericht Thurgau beurteilte aber im Jahr 2003 die AGB eines Händlers als ungültig. Sie seien nicht lesbar. Der «augenmörderisch unübersichtliche Kleindruck» sei unzumutbar.
Immer mehr Verträge enthalten viel zu lange und komplizierte Vertragsbedingungen. Wer etwa das Handy «Samsung Galaxy» kauft, muss die AGB von Samsung und Google akzeptieren, um das Telefon benutzen zu können. Von Samsung stammt das Gerät, von Google das Betriebssystem. Die AGB von Samsung und Google enthalten rund 73 000 Wörter. Für die Lektüre bräuchte man knapp fünf Stunden.
Jede einzelne App hat eigene AGB
Etwas besser haben es die Käufer eines iPhones – hier stammen Gerät und Software vom gleichen Hersteller. Sie müssen sich «nur» durch halb so viel Text quälen – konkret 38 000 Wörter. Aber auch das dauert rund zweieinhalb Stunden.
Zum Vergleich: Der Buchklassiker «Der Alte Mann und das Meer» von Ernest Hemingway kommt mit nur 27 000 Wörtern aus.
Wer dazu noch zehn beliebte Apps wie Whatsapp, Instagram oder Spotify benützt, hat noch einmal 80 000 Wörter Vertragstext zu studieren. So viele Wörter hat auch der erste Harry-Potter-Band.
Im Unterschied zu den britischen Fantasy-Romanen werden die ausufernden AGB von den Kunden kaum gelesen. Das wissen auch die Verkäufer und Hersteller, die Banken und Versicherungen. Sie nutzen die AGB in der Regel, um sich selbst Vorteile zu verschaffen und sich abzusichern. Die britische Telecomfirma Purple wollte zeigen, wie unbesehen Kunden Vertragsbedingungen akzeptieren, und machte 2017 ein Experiment. Sie schmuggelte 2017 eine Klausel in das Kleingedruckte. Die Benutzer von Gratis-WLAN auf einem Festival verpflichteten sich darin, 1000 Stunden gemeinnützige Putzarbeit zu leisten. Über 22 000 Kunden akzeptierten den Vertrag. Nur ein einziger Besucher bemerkte den «Fehler».
«Lektüre von mehr als 30 Minuten ist zu lang»
Gut zu wissen: Solche überlangen AGB sind rechtlich wirkungslos – also ungültig. Darin sind sich viele Rechtsprofessoren einig. Unternehmen können sich bei Forderungen also nicht darauf berufen.
Vertragsrechtler Thomas Probst, Professor an der Uni Freiburg, sagt klar: «Bei sehr langen AGB ist es für Konsumenten in der Regel nicht zumutbar, sie zur Kenntnis zu nehmen.» Der Leseaufwand müsse in einem vernünftigen Rahmen bleiben. Man dürfe von Firmen erwarten, dass sie ihre AGB klar und kurz formulieren. Probst: «Eine Lektüre von mehr als einer halben Stunde ist meiner Meinung nach zu lang. Auch schon unterhalb dieser Grenze könnten AGB unzumutbar sein.» Das heisst: ungültig. Der Professor ergänzt: Er persönlich sei kaum je in der Lage, AGB in zehn Minuten zu verstehen. Deshalb lese er die AGB in der Regel nicht und stelle beim Unterschreiben der Verträge klar, dass er die AGB erhalten, aber nicht gelesen und akzeptiert habe.
Thomas Koller von der Uni Bern sagt: «Je länger und komplizierter die AGB insgesamt sind, desto weniger können die Klauseln gegen den Kunden verwendet werden.» Das gelte sogar dann, wenn dieser etwa im Internet mit einem Häkchen bestätigte, dass er die AGB gelesen hat.
Vito Roberto, Professor an der Uni St. Gallen, sieht es ähnlich. AGB «von mehreren Dutzend Seiten» seien bei Alltagsgeschäften unzumutbar und ungültig.
Anderer Ansicht ist Samsung-Sprecherin Pia De Carli: «Wir sind der Meinung, dass die Nutzungsbedingungen von Samsung gültig sind.»
Das müssen Sie über AGB wissen
Allgemeine Vertragsbedingungen (AGB) sind vorformulierte Klauseln einer Vertragspartei. Sie gelten grundsätzlich nur, wenn im Vertrag darauf verwiesen wird und sie vor Vertragsabschluss dem Kunden übergeben werden. Rechtlich verbindlich sind sie dadurch aber noch lange nicht. Die Klauseln müssen für den Kunden verständlich und umfangmässig zumutbar sein. Unklare oder ungewöhnliche Klauseln sind ungültig. Das gilt auch für Bedingungen, die den Konsumenten einseitig erheblich benachteiligen.