Lilo Hartmeier sprüht vor Energie, hat viel Witz und ist zusammen mit ihrem Mann Paul im Wohnmobil jedes Jahr mehrere Monate lang in ganz Europa unterwegs. Gegenwärtig muss sie ihre Reisegelüste allerdings etwas zügeln, weil sie seit einem Sturz an Schulterschmerzen leidet. Sonst sind ihr die 72 Jahre kaum anzumerken. Kaum zu glauben, dass sie vor fast 18 Jahren als Organspenderin vorgesehen war.
Ihr Mann Paul Hartmeier erinnert sich: Seine Frau wurde am 21. April 2004 mit extrem starken Kopfschmerzen ins Kantonsspital Aarau eingeliefert. Eine Computertomografie und eine Hirndruckmessung ergaben, dass sie an einer starken Hirnhautentzündung litt, die durch eine chronische Mittelohrentzündung ausgelöst worden war. Im Hirn hatte sich ein Eiterherd gebildet. Diesen wollten die Ärzte operativ entfernen.
Doch der Zustand von Lilo Hartmeier verschlechterte sich rasch. Sie konnte zwar noch selbständig atmen, aber ihre Hirnströme wurden schwächer. Die Patientin lag im Koma. Die Prognose der Ärzte fiel schlecht aus: «Der Professor sagte, die Hirnverletzung meiner Frau sei so schwerwiegend, dass sie zum Tod führe», erinnert sich Paul Hartmeier. Sie hätten medizinisch alles getan, was möglich sei.
Ärzte sprachen von einer Organspende
Lilo Hartmeier wurde danach von der Intensivstation in ein normales Spitalzimmer verlegt. Die Ärzte versorgten sie nur noch mit Flüssigkeit, damit sie nicht verdurstet, und mit Morphium gegen die Schmerzen. Antibiotika gegen die Entzündung gaben sie ihr keine mehr. Einer der Ärzte überreichte Paul Hartmeier eine Plastiktüte mit dem Ehering, den Ohrringen und der Armbanduhr seiner Frau. Die Ärzte gingen davon aus, dass die Patientin sterben würde. Paul Hartmeier erzählt im Gespräch mit dem K-Tipp, die Ärzte hätten die Möglichkeit einer Organspende zur Sprache gebracht.
Doch so weit kam es nicht. Denn für Paul Hartmeier kam eine Organspende nicht infrage. Er wusste genau, dass dies seine Frau nicht gewollt hätte – allein schon aus religiösen Gründen.
Patientin wachte auf – und erholte sich
Zwei Tage später öffnete Lilo Hartmeier ihre Augen, streckte ihrem Mann die Arme entgegen und grüsste ihn. Zwei Ärzte untersuchten die Patientin. Der eine sagte zu Paul Hartmeier, er solle sich keine Hoffnungen machen. Diese Reflexe kämen nicht mehr vom Hirn, sondern vom Rückenmark.
Doch entgegen allen ärztlichen Prognosen erholte sich Lilo Hartmeier von Tag zu Tag mehr. Anstelle von Morphium verabreichten die Ärzte der Patientin Antibiotika zur Bekämpfung der Hirnhautentzündung. Drei Wochen später konnte Lilo Hartmeier das Spital in Aarau verlassen.
Fast keine Dokumente zum Fall im Spital
Das alles liegt wie erwähnt fast 18 Jahre zurück. Dennoch lässt sich der Fall heute bis in alle Einzelheiten zurückverfolgen, da Paul Hartmeier die Vorgänge damals selber genau dokumentierte. Vor zwei Wochen stellte Lilo Hartmeier ein Gesuch um Einsicht in ihre Krankengeschichte. Ein Arzt des Kantonsspitals teilte ihr darauf telefonisch mit, dass dazu fast keine Dokumente mehr vorhanden seien. Insbesondere fehlen ein genauer Behandlungsplan, Dokumente zur Hirntoddiagnostik und Gesprächsprotokolle. Die Medienabteilung des Kantonsspitals Aarau schreibt dem K-Tipp: «Die Behandlung liegt bereits 18 Jahre zurück, und die behandelnden Ärzte sind nicht mehr am Kantonsspital Aarau tätig. Offensichtlich war Frau Hartmeier zu keinem Zeitpunkt hirntot, da dieser Zustand irreversibel ist.»
Konkrete Fragen zum Fall liess das Kantonsspital unbeantwortet – so zum Beispiel, ob die Ärzte im Hinblick auf eine mögliche Organspende bewusst darauf verzichteten, die Hirnhautentzündung der Patientin durchgehend mit Antibiotika zu behandeln. Das Kantonsspital Aarau sagt dazu nur, in der Zwischenzeit hätten sich das Transplantationsrecht und die Transplantationspraxis «stark» weiterentwickelt.
Das heisst: Heute ist vorgeschrieben, dass in einem solchen Fall zwei Ärzte gemeinsam den Hirntod der Patientin bestätigen. Dazu müssen sie eine Reihe von Untersuchungen und Tests von Reflexen durchführen.
Laut Swisstransplant lag kein Hirntod vor
Wie häufig kommt es bei Hirntoddiagnosen zu Fehlern? Der K-Tipp stellte diese Frage vor einem Monat der Stiftung Swisstrans-plant. Die Organisation schrieb damals: «In der Schweiz ist kein Fall bekannt, bei dem Organe von einem nicht hirntoten Patienten entnommen wurden» (K-Tipp 5/2022). Doch Untersuchungen, welche diese Aussage belegen würden, lieferte Swisstransplant nicht.
Zum Fall Lilo Hartmeier hält Swisstransplant jetzt fest: «Aufgrund der gemachten Schilderungen war die Patientin nie hirntot, und eine entsprechende Untersuchung wurde nicht durchgeführt.» Es sei nicht aussergewöhnlich, «dass bei schweren Erkrankungen, die einen ungünstigen Verlauf vermuten lassen, im Rahmen eines Gesprächs mit Angehörigen das Thema Organspende angesprochen wird».
Organspende: Pro und Contra zur Abstimmung vom 15. Mai
Am 15. Mai stimmt die Schweiz über eine Änderung des Transplantationsgesetzes ab. Heute gilt: Für eine Organentnahme braucht es die Zustimmung der betroffenen Person oder bei fehlender Willensäusserung die Einwilligung der nächsten Angehörigen. Neu sollen Organentnahmen generell erlaubt sein, sofern sich jemand nicht
zu Lebzeiten schriftlich dagegen ausspricht und sich in ein amtliches Register einträgt. Diese Regelung ist ethisch und juristisch umstritten. Im Juristenmagazin «Plädoyer» diskutierten zwei Rechtsprofessorin über die kommende Abstimmung («Plädoyer 2/2022).
PRO Befürworterin des neuen Transplantationsgesetzes ist die Neuenburger Assistenzprofessorin Mélanie Levy (40), die auch bei Swisstransplant mitwirkt. Ihre Argumente für ein Ja:
- Der Bund ist verpflichtet, Organspenden zu fördern. Neutrale Informationen genügen nicht.
- Die Zahl der Organspender könnte bei einem Ja zum Gesetz steigen.
- Die Angehörigen sind involviert, bevor ein Organ entnommen wird.
- Die Abläufe im Spital, bei denen ein Hirntod festgestellt wird, ändern sich durch das neue Gesetz nicht.
- Vorbereitende medizinische Massnahmen dürfen für Sterbende nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sein.
CONTRA Gegnerin des Gesetzes ist Franziska Sprecher (44), Assistenzprofessorin in Bern und Mitglied des Abstimmungskomitees «Nein zur Organentnahme ohne Zustimmung». Ihre Argumente für ein Nein:
- Niemand hat ein Recht auf ein Organ eines anderen Menschen.
- Es gibt aus anderen Ländern bisher keinen Beleg, dass die Zahl der Organspenden bei Einführung der Widerspruchslösung steigen würde.
- Bei jedem medizinischen Eingriff braucht es die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen. Das muss auch bei Organentnahmen gelten. Die Zustimmung der Angehörigen genügt nicht. Es ist zudem unklar, wer als Angehöriger gilt. Der Bundesrat will dies erst nach der Abstimmung regeln.
- Auch Sterbende haben ein Recht auf Würde. Vor Organentnahmen werden Massnahmen ergriffen – noch während abgeklärt wird, ob ein Widerspruch vorliegt. Organe möglicher Spender werden etwa mittels Sonden gekühlt. Das stört den Sterbeprozess.
- Sozial Schwache und nicht informierte Patienten verpassen es unter Umständen, sich zu Lebzeiten gegen eine Organentnahme auszusprechen. Es besteht die Gefahr, dass man ihnen Organe gegen ihren Willen entnimmt.