Hier zeigt die Armut ihr wahres Gesicht: An der Zürcher Europaallee, direkt hinter dem Hauptbahnhof, wo keine Mietwohnung unter 3000 Franken zu haben ist, bildet sich täglich um halb sechs Uhr abends eine über hundert Meter lange Warteschlange. Hier finden sich Leute ein, die sich das tägliche Essen nicht mehr leisten können.
«Zum Glück gibt es hier etwas zu essen»
An diesem kalten Herbstabend im Oktober gibt es Poulet oder Couscous mit Reis. «Wie geht es dir heute, Marco?», fragt Schwester Ariane einen jungen Mann mit einer roten Winterjacke (Namen aller Bedürftigen geändert). «Gut», antwortet der junge Mann. «Hast du einen Job gefunden?», fragt die Schwester, die inzwischen die Geschichte vieler Betroffener kennt. «Ich habe eine Anstellung in Aussicht», sagt Marco und strahlt. «Hoffentlich klappt es. Sonst komme ich halt weiter hierher.»
Schwester Ariane heisst mit bürgerlichem Namen Ariane Stocklin. Sie und der Pfarrer Karl Wolf aus Küsnacht ZH haben dieses Angebot für Bedürftige im März vergangenen Jahres ins Leben gerufen. Die beiden arbeiten für den Zürcher Verein Incontro, der von Spenden lebt (siehe auch Kasten).
Die Nächste in der Reihe ist Angelika, Mutter von zwei Kindern, arbeitslos seit Weihnachten im vergangenen Jahr. Vorher arbeitete sie in einer Reinigungsfirma. Jetzt lebt sie von der Sozialhilfe. Doch das Geld reicht nicht zum Leben. «Zum Glück gibt es hier etwas zu essen. Und ich treffe Menschen. So weiss ich, ich bin nicht allein.»
Essen erhalten hier alle – ohne dass sie einen Ausweis oder eine andere Zugangsberechtigung vorweisen müssen. «Zurzeit geben wir täglich zwischen 250 und 350 warme Mahlzeiten ab», sagt Schwester Ariane. Jeweils um halb acht Uhr abends bringt das Warenhaus Globus Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden dürfen, qualitativ aber noch einwandfrei sind.
Zwar unterstützt der Bundesrat den Arbeitsmarkt seit Beginn der Corona-Pandemie mit Milliardenbeträgen, um etwa Unternehmen, Hotels oder Restaurants zu retten. Doch die Leute, die hier fürs Essen anstehen, haben von dieser Nothilfe keinen Rappen gesehen. Pfarrer Karl Wolf sagt: «Viele dieser Menschen leben seit Jahren in der Schweiz. Sie haben in der Krise ihren Tieflohnjob verloren.» Betroffen sind meist Leute, die regulär arbeiteten, jahrzehntelang Steuern zahlten und vor allem in der Gastronomie oder der Reinigungsbranche tätig waren.
Auffällig viele Ältere in der Warteschlange
Doch nicht nur Leute aus dem Tieflohnsektor stehen hier. Der 55-jährige Mario zum Beispiel hatte eine Kaderposition bei einem börsenkotierten Logistik- und Speditionsunternehmen, bis ihn eine schwere Krankheit im vergangenen Jahr komplett aus der Arbeitswelt warf. Heute ist er ganz unten angekommen, wohnt in einem kleinen WG-Zimmer und lebt von der Sozialhilfe. Das Geld reicht nicht mal für dieses äusserst bescheidene Leben.
Augenfällig viele ältere Leute stehen in der Warteschlange. Schwester Ariane geht mit einem Lächeln im Gesicht auf eine Frau zu und umarmt sie: «Das ist Resli. Mit ihr mache ich manchmal einen Tanz, oder dann jodeln wir zusammen.» Für Resli ist diese Essensausgabe die letzte Station am Tag. Sie ist fast den ganzen Tag an verschiedenen Orten mit dem Einsammeln von Essen beschäftigt. Sie lebt ausschliesslich von ihrer kleinen AHV-Rente. Das gilt auch für Paul, der hier ebenfalls regelmässig auftaucht. Von der AHV leben bedeutet für diese Leute, 1200 Franken im Monat zur Verfügung zu haben – für Miete, Krankenkasse, Telefon, den öffentlichen Verkehr oder mal ein Shampoo.
Heute können Schwester Ariane und ihr Team den Bedürftigen zusätzlich zum Essen selbstgestrickte Mützen und Socken mitgeben – Strichwaren, die von Heimen und Vereinen gespendet wurden.
«Solidarität mit Betroffenen nimmt ab»
Jedes Extra ist hochwillkommen. Denn die Not ist geblieben, sagt Schwester Ariane. Menschen verlören erst ihren Job, dann die Wohnung und würden dadurch unvermittelbar – ein Teufelskreis. Gleichzeitig stellt die Gassenarbeiterin eine zunehmende Entsolidarisierung mit den Bedürftigen fest. Die Leute seien coronamüde. «Das schlägt sich in einem Spendenrückgang nieder, auch von Naturalspenden.» Gesellschaftliche Spannungen würden zunehmen. Das äussere sich auch in einer zunehmenden Aggression gegenüber Notleidenden.
Plötzlich taucht in der Warteschlange der obdachlose Wanderarbeiter Johann auf. Die Hand des jungen Mannes ist eingebunden. «Zeig mal her», sagt Ariane zu ihm. Unter dem Verband kommt eine eiternde Stichwunde zum Vorschein. «Ich bin vor einer Woche an der Langstrasse auf dem Velo überfallen worden», erzählt Johann. Im Spital habe man ihm die Stichwunde lediglich mit einem Verband eingewickelt und ihn wieder weggeschickt, weil er weder sofort bezahlen noch eine Krankenkasse angeben konnte. Anders bei der Apotheke in der Europaallee: Hier erhalten Leute, die der Verein Incontro vorbeischickt, unkompliziert und gratis eine Erste-Hilfe-Behandlung.
Um neun Uhr abends kehrt zwischen Bahngleis und Europaallee in Zürich wieder Ruhe ein. Essen und Kleider sind verteilt. Am nächsten Abend um halb sechs Uhr werden die meisten von ihnen wieder da sein.
Verein Incontro hilft Notleidenden
Seit März 2020 verteilt der Zürcher Verein Incontro jeden Abend Lebensmittel, Mahlzeiten und weitere Alltagsgüter an Bedürftige. Die Mahlzeiten werden von Restaurants und der Pfarrei Zürich-Seebach zum Selbstkostenpreis an den Verein abgegeben.
Der Verein Incontro lebt von Spenden Privater sowie von Serviceclubs wie Rotary, Lions und Kiwanis. Jeden Tag sind 10 bis 20 Helferinnen und Helfer ehrenamtlich im Einsatz. Weitere Infos zum Verein gibts im Internet unter www.incontroverein.ch.