«Wir machen uns manchmal Sorgen um Alenas Zukunft»
Inhalt
Gesundheitstipp 12/2001
01.12.2001
Regina (36) und Henry Frei (39) über den Alltag mit ihrer behinderten Tochter Alena
Die kleine Alena startete mit einem Handicap ins Leben: Ihr rechtes Bein ist verkürzt, das Wadenbein und zwei Zehen fehlen. Dem 18 Monate alten Mädchen stehen mehrere grosse Operationen bevor.
Fridy Schürch redaktion@pulstipp
Regina: Nach Alenas Geburt legte mir die Ärztin unser Baby in ein Tuch eingewickelt auf meinen Bauch und verliess das Zimmer.
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Regina (36) und Henry Frei (39) über den Alltag mit ihrer behinderten Tochter Alena
Die kleine Alena startete mit einem Handicap ins Leben: Ihr rechtes Bein ist verkürzt, das Wadenbein und zwei Zehen fehlen. Dem 18 Monate alten Mädchen stehen mehrere grosse Operationen bevor.
Fridy Schürch redaktion@pulstipp
Regina: Nach Alenas Geburt legte mir die Ärztin unser Baby in ein Tuch eingewickelt auf meinen Bauch und verliess das Zimmer.
Henry: Als sie nach kurzer Zeit wiederkam, sagte sie, dass sie am Beinchen etwas entdeckt habe, das nicht üblich sei.
Regina: Die Ärztin sagte uns, dass Alena eine Fibula-Aplasie habe. Das bedeutet, dass ihr rechtes Bein verkürzt ist und das rechte Wadenbein sowie zwei Zehen fehlen. Bis dahin war uns gar nichts Aussergewöhnliches aufgefallen an unserer Tochter. In den Tagen nach der Diagnose hast du lange auf dem Internet nach Antworten gesucht.
Henry: Ich habe alle Informationen abgerufen, die es über die Fibula-Aplasie gibt. Im ersten Moment schockierten mich Berichte, dass die Ärzte in den USA in solchen Fällen den Unterschenkel mehrheitlich amputieren.
Regina: Im Wochenbett hatte ich Mühe damit, dass sich alles um Alenas Bein drehte. Als ich nach fünf Tagen wieder zu Hause war, wollte ich einfach einmal in Ruhe unser wunderbares Baby in den Armen halten und geniessen. Generell habe ich mit der Missbildung von Alenas Bein und Fuss kein Problem. Vielmehr beschäftigen mich die kommenden Operationen. Dir hat die Behinderung anfänglich mehr zu schaffen gemacht.
Henry: Das stimmt. Wobei mich vor allem beschäftigte, dass unsere Tochter ihr Leben von Anfang an mit einer Belastung bewältigen muss. Das fing doch an, als sie die ersten Schritte macht. Und später wird es besonders schwierig, wenn sie in die Pubertät kommt. In unserer Gesellschaft, wo oft nur Äusserlichkeiten zählen, wird sie als Mädchen früher oder später an persönliche Grenzen stossen. Insofern sorge ich mich um ihre Zukunft.
Regina: Jeder Fall von Fibula-Aplasie verläuft individuell; die Behandlungsmethoden sind vielfältig. Bereits am zweiten Tag wurde Alena im Kinderspital eine Schiene angepasst. Sie soll den Fuss und das Schienbein dauerhaft in der richtigen Position halten. Darüber hinaus existieren unterschiedliche Systeme, um das Bein zu verlängern. Es ist anscheinend auch möglich, das längere Bein zu verkürzen, nachdem das Kind ausgewachsen ist. Unter Umständen kann es auch notwendig werden, das Fussgelenk zu versteifen. Ich bin froh, dass Alenas Arzt in erster Linie darauf schaut, wie sich unser Kind entwickelt. Der genaue zeitliche Ablauf der Behandlungen steht deshalb nicht fix fest.
Henry: Wir müssen uns laufend mit dieser Situation auseinander setzen. Es ist auch möglich, dass Alenas Fuss schon bald operiert werden muss. Das hängt davon ab, wie gut es mit der Schiene klappt. Wir hoffen aber, dass wir mit der Operation zuwarten können, bis Alena mindestens vierjährig ist. Einerseits, damit sie versteht, was mit ihr geschieht, andererseits aber auch, weil die Operation zu Vernarbungen im Gewebe führt, die das weitere Wachstum verhindern können.
Regina: Es ist geplant, dass Alena operiert wird, noch bevor sie in den Kindergarten kommt.
Henry: Die Operation wird aus zwei Teilen bestehen. Durch das fehlende Wadenbein hat Alena keinen Halt im Fussgelenk. Wenn sie jetzt ohne Schiene aufsteht, steht sie auf ihrem Schienbeinknochen. Der erste Schritt wird deshalb sein, ihren Fuss richtig unter das Schienbein zu platzieren. Zudem soll ihr Bein mit dem Ringfixateur verlängert werden. Das ist ein ringförmiges Spannsystem mit Drähten, die am Knochen verankert werden, um sie in der gewünschten Position zu fixieren.
Regina: Ich denke, dies wird eine schwierige Zeit. Ich kann mir vorstellen, was das heisst, wenn sie als Vierjährige offene Wunden hat und sich nicht so frei bewegen kann, wie sie das vielleicht möchte.
Bis jetzt ist mein Alltag durch Alenas Behinderung noch nicht eingeschränkt. Mit der Schiene kann sie bereits gehen. Im Kinderwagen kann ich sie überallhin mitnehmen, auch zum Joggen. Manchmal habe ich Mühe, wenn die Leute so auffällig hinschauen, wenn sie sehen, dass etwas mit Alenas Bein nicht stimmt. Viele glauben, Alena hätte das Bein gebrochen. Ihr fünfjähriger Bruder Jan reagierte anfangs ganz süss. Er zählte immer wieder die Zehen und fragte: «Du Mami, wachsen die wieder?»
Henry: Er wächst damit auf und lernt auf natürliche Weise mit einer Behinderung umzugehen. Für mich ist diese Situation völlig neu. Alenas Behinderung relativiert vieles und ich empfinde es trotz allem als gute Erfahrung für mich. Mir ist bewusst geworden, wie gesund ich bin.
Regina: Für Alena wird es möglicherweise schwierig werden. Hauptsächlich dann, wenn sie nicht tun kann, was sie eigentlich möchte, zum Beispiel herumrennen wie die anderen. Wir erleben sie als extrem wildes Kind. Sie wird schon jetzt manchmal wütend, wenn sie sich nicht frei bewegen kann, weil sie die Schiene behindert.
Henry: Die Behinderung können wir ihr nicht abnehmen. Wir versuchen aber, ihre Anlagen optimal zu unterstützen. Unsere Lebenssituation kann sich von Tag zu Tag ändern. Wir müssen bereit sein, wenn der Zeitpunkt kommt, wo Alena aufgrund der Operation intensive Pflege benötigt. Während dieser Zeit werden wir täglich auf die Hilfe der Spitex angewiesen sein.
Regina: Ja, das ist die eine Seite. Anderseits finde ich es auch sehr wichtig für Alena, dass sie erfahren darf, dass sie nicht alleine ist mit dieser Behinderung. Gerade weil sie so selten vorkommt. Darum kamen wir auf die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Die Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen in St. Gallen hilft uns dabei und steht auch als erste Anlaufstelle für Interessierte zur Verfügung.
Henry: Es ist ein glücklicher Zufall, dass wir Eltern kennen gelernt haben, die ein Kind mit derselben Behinderung haben. Das ist ungefähr in Alenas Alter. Es ist spannend, Erfahrungen auszutauschen. Wir verstehen uns prima und schon jetzt scheint Alena zu realisieren, dass das andere Mädchen auch eine Schiene trägt.
Regina: Interessant ist für uns auch, dass der Arzt dieses Kindes einen ganz anderen Zeitpunkt für die Operationen wählt. Das Mädchen hat bereits einen ersten grossen Eingriff hinter sich. So sind wir im Gespräch mit den Eltern auch immer wieder gezwungen, zu überprüfen, ob das Vorgehen bei Alena für uns stimmt.
Henry: Ich schätze es, mit den Eltern des anderen Mädchens auch ganz alltägliche, praktische Aspekte im Zusammenhang mit der Behinderung unserer Kinder zu diskutieren. Wir hoffen nun, durch die Gründung einer Selbsthilfegruppe den Gesprächskreis zu erweitern. Es wäre auch interessant, betroffene Erwachsene nach ihren Erfahrungen zu fragen.
Regina: Manchmal frage ich mich, wie es zu dieser Behinderung kam. Das wird vielleicht auch eines Tages Alenas Frage an mich sein. Vermutlich kommt die Fehlbildung in den ersten Schwangerschaftswochen zustande. Aber eigentlich ist es ja unwichtig. Für mich ist es jetzt und heute wichtig, dass Alena spürt, wie sehr wir sie lieben. Sie soll dadurch ein starker, selbstbewusster Mensch werden.
Fibula-Aplasie - Nur 2 von 100000 Neugeborenen sind betroffen
Bei der Fibula-Aplasie entwickelt sich während der Schwangerschaft eines oder beide Beine des Embryos nicht normal. Dem Kind fehlt das ganze oder ein Teil des Wadenbeins, der Unterschenkel ist verkürzt, das Schienbein gekrümmt und der Fuss missgebildet. Rund 2 von 100000 Neugeborenen sind betroffen.
- Die Fibula-Aplasie gehört zu einer Gruppe von Behinderungen an Beinen und Füssen. Kleinere Fehlbildungen sind bei Neugeborenen häufig. Die Krankheit hat genetische Ursachen.
- Wie schwer ein Kind nach der Geburt behindert ist, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt die Entwicklung des Beines beim Embryo gestört wird. Meistens geschieht dies in der 3. bis 5. Schwangerschaftswoche.
- Jeder Fall von Fibula-Aplasie ist verschieden. Die Behandlung richtet sich danach, wie ausgeprägt eine Fehlbildung ist. Meistens sind eine oder mehrere Operationen nötig. Ein erster grosser Eingriff wird oft schon beim Kleinkind durchgeführt.
- Wichtig ist, dass die Ärzte für das betroffene Kind möglichst früh ein Behandlungskonzept entwickeln. Dabei sollten sie auch ästhetische und psychologische Gesichtspunkte berücksichtigen.
- Selbsthilfegruppe: Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen Lämmlibrunnenstrasse. 55 9500 St. Gallen Tel. 071 222 22 63 selbsthilfe@paus.ch www.selbsthilfe-gruppen.ch
- Infos im Internet: www.universimed.com