Am 3. März stimmte die Schweizer Bevölkerung über eine Erhöhung des Rentenalters von zurzeit 65 Jahren ab. Das Ergebnis war eindeutig: Die entsprechende Initiative der Jungliberalen wurde mit fast 75 Prozent Neinstimmen abgelehnt.
Doch davon lassen sich Wirtschaftsvertreter nicht beirren. So sagte etwa Severin Moser, Präsident des Arbeitgeberverbandes, vor kurzem gegenüber mehreren Tageszeitungen: «Ich bin überzeugt, dass es eine Erhöhung des Rentenalters braucht.»
Und Monika Rühl, Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, hält längeres Arbeiten ebenfalls für unumgänglich. «Die Erhöhung des Rentenalters wird kommen, ob uns das passt oder nicht», meinte Rühl nach der Abstimmung im März.
Über 65: Nur wenige Firmen nennen Zahlen
Doch beschäftigen grössere Unternehmen tatsächlich Angestellte über das Rentenalter hinaus? Der K-Tipp fragte bei 20 der umsatzstärksten Mitgliederfirmen von Economiesuisse nach, wie viele Angestellte bei ihnen über 65 sind. Das Ergebnis zeigt: Grosse Unternehmen beschäftigen fast keine Angestellten über das Pensionsalter hinaus – obwohl das gesetzlich möglich wäre.
Die meisten Firmen gaben gegenüber dem K-Tipp keine Zahlen zu Angestellten im Alter über 65 bekannt. Darunter sind auch internationale Konzerne mit zum Teil Tausenden von Angestellten: etwa Novartis, Roche, Implenia, IBM, Nestlé, Google, Lindt & Sprüngli, Microsoft, Swisscom, DKSH oder Adecco.
Nur die Stromkonzerne Alpiq, Axpo und BKW, die Baustoffkonzern-Tochter-firma Holcim (Schweiz) AG und die Fluggesellschaft Swiss nannten Zahlen. Der Anteil der über 65-Jährigen ist bei diesen Firmen verschwindend klein: Er beläuft sich auf 0,3 Prozent (Swiss-Bodenpersonal) bis 2,1 Prozent (Alpiq) der Gesamtbelegschaft in der Schweiz. In Zahlen heisst das zum Beispiel bei der Swiss: Nur 10 von 3167 Mitarbeitern sind über 65 Jahre alt. Economiesuisse wollte die Resultate der Umfrage bei seinen Mitgliedfirmen nicht kommentieren.
Die Versicherung Allianz Suisse wurde bis vor wenigen Jahren von Severin Moser geführt. Er leitete die Geschäfte von 2014 bis 2021. In seiner neuen Rolle als Präsident des Arbeitgeberverbandes fordert er, dass Arbeitnehmer länger arbeiten und später in Rente gehen. Bei seinem früheren Arbeitgeber Allianz Suisse gibt es jedoch kaum Angestellte über 65. Nur 29 der total 3300 Beschäftigten sind in diesem Alter.
Angestellte über 55 vor die Tür gestellt
Recherchen des K-Tipp zeigen: Moser engagierte sich in seiner Zeit als Chef von Allianz Suisse kaum für ältere Angestellte. Im Gegenteil: «Mehrere Dutzend Angestellte über 55 mussten unter Moser gehen», erzählen Mitarbeiter der Allianz dem K-Tipp. «Darunter waren erfahrene Kaderleute und Fachkräfte, zum Teil langjährige Beschäftigte und Koryphäen auf ihrem Spezialgebiet.»
Laut den Mitarbeitern boten einige Betroffene an, für weniger Lohn in tieferen Positionen und anderen Abteilungen zu arbeiten. Doch das sei vom Management abgelehnt worden. Dafür seien auffallend viele jüngere Leute angestellt oder Mitarbeiter des Mutterhauses der Allianz aus Deutschland übernommen worden. «Dort gab es zu der Zeit zu wenig Arbeit. Und dort ist es schwieriger, Angestellte zu entlassen», berichtet eine Mitarbeiterin mit gutem Kontakt zum Allianz-Hauptsitz in München. Severin Moser hält gegenüber dem K-Tipp nur fest: «Die geäusserten Behauptungen sind völlig haltlos.»
«Sie predigen Wasser und trinken Wein»
Pascal Scheiwiller ist Geschäftsführer bei der Firma von Rundstedt. Sie unterstützt unter anderem Ältere bei der Stellensuche. Er sagt: «Es braucht die Überzeugung, dass Ältere kein Risiko sind, sondern eine Chance.» Viele Arbeitgeber behaupteten zwar, sie würden ältere Angestellte wollen, verhielten sich dann aber völlig anders. Scheiwiller: «Da wird Wasser gepredigt, aber Wein getrunken.»
Der Arbeitgeberverband schreibt auf Anfrage, er sei überzeugt, dass Mitarbeiter über 50 in Zukunft gefragt seien. Er unterstütze sie mit einem eigenen Förderprogramm.