So gross war die Informationsflut aus dem Bundesamt für Gesundheit noch nie: Seit Frühjahr 2020 veröffentlicht es täglich aktuelle Zahlen zu «Coronafällen», zu Hospitalisierungen, zur Belegung der Intensivstationen, zu Corona-Toten.
Nur: Die veröffentlichten Daten sind lückenhaft, die Aussagekraft vieler Angaben ist fragwürdig, und es fehlt ein Vergleich mit dem Normalzustand vor der Pandemie. Der K-Tipp hat zugängliche Daten zusammengestellt:
Corona-Tote: Diese Zahl ist noch unbekannt. Die Statistik der Todesursachen fürs Jahr 2020 liegt erst im Sommer 2022 vor. Warum diese Verzögerung? Die Kodierung der Todesursachenstatistik erfolge von «hochspezialisiertem Personal», steht im «Bericht zur Verbesserung des Datenmanagements im Gesundheitsbereich» des Bundesamts für Gesundheit vom 12. Januar. Das Bundesamt für Statistik sei «aufgrund fehlender Ressourcen in Verzug».
Bekannt ist die Gesamtzahl aller Verstorbenen in den beiden Pandemie-Jahren (siehe Grafik im PDF): Im vergangenen Jahr starben in der Schweiz auf 1000 Einwohner 7,8 Menschen. Im ersten Corona-Jahr 2020 lag die Sterblichkeit deutlich höher, bei 8,8. Vergleichbare Zahlen gab es in den Jahren 2000 (8,7) und 2003 (8,6). 2016 bis 2019 starben in der Schweiz ähnlich viele Leute wie 2021. 2015 führte die Grippe zu mehr Todesfällen (8,2).
Hospitalisationen: Das Bundesamt für Gesundheit kann auch nach fast zwei Jahren Pandemie nicht sagen, wie viele Patienten wegen einer Covid-Infektion ins Spital eintraten. «Mit und wegen Covid» waren es zuletzt im Januar 2022 täglich im Durchschnitt 99 – bei total rund 3400 Spitaleintritten pro Tag.
Laut Zahlen vom vergangenen Sommer waren nur 45,5 Prozent der seit Beginn der Pandemie «in Zusammenhang mit Corona» ins Spital eingelieferten Patienten wegen einer Corona-Infektion hospitalisiert worden («Saldo» 12/2021). Die übrigen kamen wegen einer anderen Krankheit oder einem Unfall ins Spital und wurden dort positiv auf Corona getestet. Auf ähnliche Zahlen kam das Genfer Universitätsspital Anfang 2022. Es gab bekannt, «fast die Hälfte aller als Corona-Patienten» gezählten Spitaleintritte seien nicht wegen Covid eingeliefert worden.
Spitalbettenbelegung: Im Corona-Jahr 2020 waren in den 44 Zentrumsspitälern 81 Prozent der Betten belegt, in den 62 Grundversorgungsspitälern 73 Prozent. 2019 war die Belegung höher: Sie lag damals bei 86 Prozent beziehungsweise 76 Prozent, 2010 sogar bei 93 Prozent respektive 91 Prozent. Und das, obwohl die Anzahl Betten in den Akut-Spitälern in den letzten zehn Jahren laut Bundesamt für Statistik von 26 116 auf 23 948 zurückging.
Lungenentzündungen: Eine Lungenentzündung und die chronisch-obstruktive Bronchitis sind die Atemwegserkrankungen, die in der Schweiz am häufigsten zum Tode führen. Laut der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser 2017 des Bundesamtes für Statistik liegen sie auf Platz eins der häufigsten Gründe für einen Spitaleintritt – vor Herzinfarkt und Schlaganfall.
Während der Pandemie wurden in den Spitälern nicht mehr Leute mit einer Lungenentzündung behandelt als früher. Vor dem Jahr 2020 erkrankten in der Schweiz jährlich 65 000 bis 82 000 Menschen an einer Lungenentzündung, wie die ärztliche Fortbildungszeitschrift «Swiss Medical Forum» schreibt. Laut dem Unispital Zürich ist die Zahl der stationär behandelten Lungenentzündungen über die Jahre 2019, 2020 und 2021 konstant.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Krankenkasse Groupe Mutuel, wenn man jeweils die ersten fünf Monate der Jahre 2019, 2020 und 2021 vergleicht.
Corona-Erkrankte in ärztlicher Behandlung: Diese Zahl wurde bisher nie erhoben. Es gibt keine Meldepflicht für Praxis-Ärzte, nur für Spitäler. Seit 1986 gibt es in der Schweiz aber das freiwilige System Sentinella, das dem Bund zur Überwachung übertragbarer Erkrankungen wie Grippe oder Keuchhusten dient. 150 bis 250 Hausärzte machen wöchentlich anonyme Meldungen an das Bundesamt für Gesundheit. Sie melden alle Patienten, bei denen sie aufgrund bestimmter klinischer Kriterien den Verdacht auf eine ansteckende Krankheit haben.
Die Zahlen werden dann auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet und geben so einen Überblick – etwa zur Entwicklung von Grippe-Epidemien. 2020/21 wurde zum ersten Mal auch nach Covid-19 und weiteren sieben Atemwegsviren gesucht.
Im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie waren die Sentinella-Daten allerdings kaum brauchbar. Unter anderem, weil sich Covid-19-Erkrankungen laut Bundesamt in den wenigsten Fällen von anderen viralen Atemwegserkrankungen unterscheiden lassen. Vor allem aber sei die gesammelte Datenmenge von Sentinella viel kleiner als jene von Spitälern und Testzentren und deshalb wenig aussagekräftig, so ein beim Sentinella-Meldesystem beteiligter Arzt. Der Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz, Philippe Luchsinger, bedauert auf Anfrage des K-Tipp die mangelhaften Sentinella-Daten: «Wie wenig wichtig die Sentinella-Daten während der Covid-Pandemie sind, können Sie aus der Tatsache ersehen, dass ich als Hausarzt nicht weiss, was dort wirklich läuft.»
Wegen der schlechten Datenlage regte Monique Lehky Hagen, Hausärztin und Präsidentin der Walliser Ärztegesellschaft, bereits zu Beginn des Jahres 2021 ein Covid-Sentinella-Plus-Projekt an. «Es fehlen ausser bei Altersheimpatienten sinnvoll brauchbare, vergleichbare Daten sowie Studien und Forschungsprojekte zu Verläufen und Therapieoptionen im ambulanten Sektor», kritisiert sie und fordert mehr Datenkompetenz. Gerade wo therapeutisch angesetzt werden müsste, um schwere Covid-Verläufe durch rechtzeitige Massnahmen zu verhindern, gebe es einen «blinden Datenfleck».