Die sechs Schweizer Zementfabriken überschritten 2019 und 2020 die gesetzlich festgelegten Abgasgrenzwerte mehrmals. Total stiessen sie doppelt so viel Schadstoffe aus wie deutsche Werke. Das ergibt eine Auswertung der Daten, die der K-Tipp von den Standortkantonen der Fabriken erhielt. Der international renommierte Zementexperte Josef Waltisberg aus Holderbank AG wertete sie aus. Der ETH-Ingenieur arbeitete 26 Jahre lang für Holcim und kontrollierte bis 2009 weltweit die Abgase der Zementfabriken des Konzerns.
Giftwolke in Untervaz kein Einzelfall
Der gravierendste Vorfall: Die Holcim-Zementfabrik in Untervaz GR stiess 2019 bei zwei von vier Kontrollmessungen mehr Dioxine aus als erlaubt. Einmal sogar mehr als das Vierfache. Anwohner erfuhren von der Giftwolke nichts. Dioxine lösen laut der Weltgesundheitsorganisation Krebs aus.
Georg Thomann vom Bündner Amt für Natur und Umwelt sagt dazu, es habe sich nur um eine «kurzzeitige» Überschreitung des Grenzwertes gehandelt. Sein Amt habe das beanstandet und Nachmessungen verlangt. Eine Holcim-Sprecherin erklärt, man habe die einmalige «Störung im Betriebsablauf» behoben.
Für den unabhängigen Experten Waltisberg ist der Vorfall kein Einzelfall. Das Werk in Untervaz sonderte schon 2015 und 2018 zu viele Dioxine ab («Saldo» 4/2020). Laut dem Experten ist klar: «Die Fabrik stösst vermutlich auch im Normalbetrieb öfter zu viele Dioxine aus.» Der Betreiber und der Kanton müssten das Problem sofort angehen. Bernhard Aufdereggen, Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz, doppelt nach: «Holcim muss die Grenzwerte unbedingt einhalten.»
Daneben gab es weitere Verstösse. Beispiele:
- Holcim Untervaz blies 2019 und 2020 Messungen zufolge auch zu viel giftiges Quecksilber in die Luft.
- Jura Cement Wildegg AG stiess 2019 und 2020 an vier Tagen mehr krebserregendes Benzol aus als erlaubt.
- Das Zementwerk Vigier in Péry BE verursachte 2020 an fünf Tagen zu viele toxische organische Gase und an drei Tagen zu viel Benzol.
Die Überschreitungen sind umso stossender, als die Schweizer Grenzwerte deutlich höher sind als etwa die von Nachbar Deutschland: Für Schwefeldioxid-Emissionen sind sie neun Mal höher, für organische Gase sieben Mal, für Staub doppelt so hoch und für Stickoxid anderthalb Mal. All diese Gifte schädigen Gesundheit und Umwelt.
Die Schadstoffe stammen aus dem Material, das die Schweizer Zementwerke jedes Jahr verbrennen: Zehntausende Tonnen Pneus, Klärschlamm oder Plastik. Zugleich setzen sie alte Böden als Rohmaterial ein. Umweltwissenschafter Harald Schönberger von der Uni Stuttgart (D) sagt: «Diese Stoffe erzeugen im Ofen die giftigen Abgase.»
Die Werke hätten drei Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun:
- Heikle Stoffe vermeiden.
- Die Abfälle besser durchmischt verbrennen und mit Sauerstoff anreichern.
- Die Abgase reinigen.
Eine moderne Anlage kostet rund 15 Millionen Franken. In Deutschland verfügen 20 der 37 Fabriken über solche Anlagen, in der Schweiz keine einzige.
Der Bundesrat will der Zementindustrie auch weiterhin nicht wehtun: Er erliess im Oktober eine neue Luftreinhalteverordnung. Ab 2022 gelten für Zementwerke zwar ähnlich strenge Grenzwerte wie in Deutschland. Doch der Bundesrat gewährt lange Übergangsfristen: Drei Werke müssen die neuen Limiten laut Bundesamt für Umwelt erst ab 2027 einhalten: die Werke in Siggenthal AG, Wildegg AG und Péry BE. Auch diese hatten in den letzten Jahren Grenzwerte überschritten. Drei weitere Fabriken müssen ihren Ausstoss sogar erst ab 2032 reduzieren: die Holcim-Werke in Untervaz GR und Eclépens VD sowie Jura Cement in Cornaux NE.
Jura-Zement: Rasche Sanierung möglich
Rebekka Reichlin vom Bundesamt für Umwelt verteidigt das Vorgehen: Die Branche müsse komplexe, teure Anlagen anschaffen. Die Fristen würden es ihr erlauben, «gestaffelt» vorzugehen. Für Nationalrat Felix Wettstein aus Olten SO (Grüne) ist das «eine Einladung, den Einbau etablierter Umwelttechniken zu verschleppen».
Dabei liesse sich das Problem schnell lösen: Das Zementwerk von Jura-Zement in Wildegg AG war eine Giftschleuder («Saldo» 11/2018). Nun lässt Werkleiter Marcel Bieri innerhalb eines Jahres für rund 15 Millionen Franken eine «Nachverbrennung» einbauen. Die neue Anlage verbrennt heikle organische Gase bei 850 Grad, bevor sie entweichen. So beseitigt man laut Bieri «bis 80 Prozent» des Benzols und der übrigen organischen Gase. «Damit halten wir die neuen Grenzwerte bei organischen Gasen ein.» Bei den übrigen Schadstoffen brauche es noch weitere Anpassungen.
Holcim rüstete 2019 sein Zementwerk im norddeutschen Beckum-Kollenbach nach – anders als die drei Schweizer Fabriken. Dabei könnte sich der Konzern das locker leisten: Laut Geschäftsbericht machte er 2020 weltweit einen Gewinn vor Steuern von 3,6 Milliarden Franken.
Neue Luftreinhalteverordnung: Aufschub erspart Industrie viel Geld
Der Schweizer Zementverband Cemsuisse betont sein Engagement für Nachhaltigkeit und Biodiversität. Zugleich lobbyiert der Verband jedoch für laschere Grenzwert-Regelungen bei der Luftverschmutzung. Seit September 2020 weibelt ein einflussreicher Politiker für die Belange der Branche: der Zuger Gerhard Pfister, Nationalrat und Mitte-Chef. Er will sich gegenüber dem K-Tipp nicht zu seinem Engagement und Salär äussern. Für die Zementexperten Harald Schönberger und Josef Waltisberg ist klar: Die Industrie spart durch die neue Luftreinhalteverordnung viel Geld, weil sie Investitionen auf Jahre hinausschieben kann.