Nach dem katastrophalen Unfall im japanischen Atomkraftwerk Fukushima gelangten radioaktive Stoffe aus Japan mit dem Regen bis in die Schweiz. Das belegten Messungen des Gesundheitstipp in der letzten Ausgabe.
Eine Stichprobe des Gesundheitstipp zeigt jetzt: AKW in der Schweiz geben auch im täglichen Betrieb Radioaktivität ab – und zwar in bedeutend höheren Mengen als im Regen aus Fukushima. Dazu gehören Cobalt-60, Cäsium-137 sowie Mangan-54.
Der Gesundheitstipp hatte von Sand und Schlamm im Fluss unterhalb aller vier Schweizer AKW Proben genommen: bei Beznau AG, Gösgen AG, Leibstadt AG und Mühleberg BE.
Zum Vergleich hatte er Referenzproben flussaufwärts der AKW gesammelt. Das Kantonale Labor Basel-Stadt untersuchte dann das Sediment für den Gesundheitstipp. Die Resultate:
- Cobalt-60: Am meisten Cobalt-60 steckt im Sediment der Aare unterhalb des AKW Mühleberg. Die Probe enthielt 6,6 Becquerel Cobalt-60 pro Kilogramm (siehe Tabelle im pdf-Artikel).
Markus Zehringer vom kantonalen Labor Basel-Stadt spricht von «deutlicher Radioaktivität». Cobalt-60 entsteht im AKW, wenn sich Stahlteile durch die Strahlung zersetzen.
- Cäsium-137: Zwei Proben enthielten besonders viel Cäsium-137: Beim AKW Gösgen waren es 9,2 Becquerel pro Kilogramm Sediment, beim AKW Leibstadt sogar 9,6 Becquerel.
Für Stefan Füglister, Atomexperte für Greenpeace, ist dieser Gehalt eine «radioaktive Verunreinigung». Auch im Sediment flussaufwärts der AKW finden sich Spuren von Cäsium-137. Laut Experten stammt es vom Super-Gau in Tschernobyl.
- Mangan-54: In Mühleberg und Gösgen waren die Werte von Mangan-54 flussabwärts der AKW drei- bis sechsmal höher als oberhalb. Auch Mangan-54 entsteht, wenn sich Stahl im AKW zersetzt.
Der Gesundheitstipp hatte beim AKW Mühleberg letztes Jahr einen weiteren kritischen Stoff gefunden: den radioaktiven Wasserstoff Tritium.
Am Geländezaun und in Schneeproben der Umgebung waren es bis zu 15 Becquerel pro Kilogramm – 15-mal so viel wie in unbelastetem Regenwasser (Gesundheitstipp 2/2010).
Wissenschafter Sebastian Pflugbeil ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin. Er sagt: «Cäsium, Cobalt, Mangan und Tritium sind typische radioaktive Materialien, die Atomanlagen im Normalbetrieb abgeben.»
Die AKW pumpen sie mit dem Abwasser aus dem Kühlsystem in die Flüsse und blasen sie über den Schornstein in die Luft. Je nach Bauweise der Reaktoren sind die Mengen unterschiedlich hoch.
Die radioaktiven Stoffe könnten jedoch auch aus Atommüll-Lagern entweichen, so Pflugbeil. Ungefähr einmal im Jahr gebe es sogar Spitzenwerte – etwa, wenn Techniker die Brennstäbe wechseln.
Dazu müssen die Fachleute den Reaktorbehälter öffnen. Radioaktive Stoffe, die bis dahin eingeschlossen waren, gelangen so in die Luft.
Radioaktivität auch beim Paul Scherrer Institut
Doch nicht nur AKW geben Radioaktivität ab. Auch das Gelände in Würenlingen AG, auf dem das Paul Scherrer Institut (PSI) und ein Zwischenlager für radioaktiven Abfall liegen: Es ist etwa 1 km vom AKW Beznau entfernt.
Das PSI macht Reaktorforschung – im Auftrag der AKW. Die unterhalb des Geländes entnommene Probe aus dem Aareschlamm enthielt gar am meisten Cäsium-137 – 18,5 Becquerel. Atomexperte Füglister hält diese Menge für «problematisch».
In allen untersuchten Proben lag zwar die gemessene Radioaktivität deutlich unter der Freigrenze von 800 (Cäsium-137) bis 10 000 (Mangan-54) Becquerel pro Kilogramm Sediment. Das heisst: Die Proben gelten für die Behörden als ungefährlich.
Dennoch sagt Strahlenexperte Sebastian Pflugbeil: «Die Stoffe dürften nicht in die Umwelt gelangen.» Denn nicht nur hohe Strahlendosen wie in Fukushima und Tschernobyl schaden dem Menschen.
Auch eine geringe Strahlenbelastung sei ein Risiko für die Gesundheit, befürchten immer mehr Wissenschafter. Der Grund ist das Ergebnis einer Studie, die deutsche Forscher vor drei Jahren veröffentlichten:
Je näher Kinder in der Nähe eines AKW aufwachsen, desto höher ist ihr Leukämierisiko. Das gilt bis zu einem Umkreis von 50 Kilometern und ist am höchsten im Umkreis von 5 Kilometern.
«Es gibt keine ungefährliche Strahlung»
Weitere Studien zeigen: In der Umgebung von AKW in der Schweiz und in Deutschland kommen weniger Mädchen als Buben zur Welt. Die Forscher vermuten, dass mehr weibliche Embryos im Mutterleib sterben, als normalerweise zu erwarten wäre.
Zudem gibt es Hinweise von Untersuchungen aus den USA, dass in der Nähe von AKW mehr Kinder mit fehlgebildeten Organen, Armen und Beinen zur Welt kommen.
Auch Erwachsene sind betroffen: In der Umgebung des deutschen Zwischenlagers für Atommüll in Asse erkrankten Erwachsene vermehrt an Blut- und Schilddrüsenkrebs.
Der Basler Krebsspezialist Claudio Knüsli ist Präsident der Ärzte mit sozialer Verantwortung. Für ihn ist klar: «Es gibt keine ungefährliche Strahlung.» Und Forscher Hagen Scherb vom Münchner Helmholtz-Institut kritisiert, die erlaubte Strahlung aus AKW sei viel zu hoch:
«Die von den Behörden als harmlos bezeichneten Mengen stimmen garantiert nicht.» Vor allem gebe es keinen Schwellenwert, unter dem Strahlung harmlos sei. Das Problem: Radioaktive Stoffe wirken nicht nur von aussen.
Sie dringen beim Atmen in den Körper ein, aber auch mit dem Trinkwasser und mit dem Essen. Dann strahlen sie von innen und schädigen Zellen und Gene – besonders von Em- bryos, Babys und Kleinkindern.
Der kanadische Wissenschafter Abram Petkau fand durch Experimente heraus: Niedrige Strahlung, die lange auf eine Zelle einwirkt, ist riskanter als eine kurze stärkere Strahlung.
Petkaus Erklärung: Die stärkeren Strahlen töten die Zelle – und mit einigen toten Zellen wird der Körper fertig. Doch niedrige Strahlung zerstört nur Teile der Zelle:
Sie funktioniert nicht mehr richtig, und es kann Krebs entstehen. Zwar sind die Erkenntnisse von Petkau in der Fachwelt umstritten. Sebastian Pflugbeil rät jungen Familien und Schwangeren dennoch, aufgrund der Risiken aus der Umgebung eines AKW wegzuziehen.
AKW-Betreiber: Kein Gesundheitsrisiko
Die Betreiber der AKW sowie des Zwischenlagers bestreiten, dass die gemessene Radioaktivität ein Gesundheitsrisiko sei. Sie sei «keine Gefahr» für die Bevölkerung, heisst es beim AKW Leibstadt. Die Mühleberg-Betreiber berufen sich darauf, die zitierten Studien würden «kontrovers diskutiert».
Die erwähnte Studie halte zwar fest, dass in der Nähe eines AKW wohnende Kinder ein erhöhtes Risiko haben, an Leukämie zu erkranken. Die Autoren hätten aber ebenfalls geschrieben, dass die radioaktive Strahlung der Kernkraftwerke «als Ursache ausgeschlossen» werden könne.
Das stimmt zwar. Doch die Autoren der Studie gerieten unter heftige Kritik, sie würden mit dieser Aussage die eigene Studie in Verruf bringen. Die Betreiber der Schweizer AKW sowie jene des Zwischenlagers berufen sich auf die Freigrenzen des Bundesamtes für Gesundheit.
Die austretenden Mengen an radioaktiven Stoffen lägen 100- bis 1000-fach darunter. Beim AKW Gösgen heisst es: «Wir haben keine Veranlassung, die Freigrenzen in Frage zu stellen.» Beznau-Betreiber Axpo schreibt, die Forderung, AKW aus Gesundheitsgründen abzuschalten, entbehre «jeder Grundlage».
Und das Paul Scherrer Institut teilt mit, seine Forschungsanlagen könnten kein Cäsium-137 erzeugen. Demzufolge stammten die 18,5 Becquerel im Sediment nicht aus dem Institut. Das Bundesamt für Gesundheit wollte sich nicht äussern.