Eingriff in die Familie
Das «Familienstellen» soll in wenigen Stunden Familien- und auch gesundheitliche Probleme lösen. Fachleute sprechen von einer gefährlichen Therapie «aus dem finstersten Mittelalter».
Inhalt
Gesundheitstipp 10/2005
28.09.2005
Andreas Gossweiler
Samstagnachmittag im alten Schulhaus von Uster ZH. Zehn Personen sitzen im Halbkreis. Gebannt schauen sie auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielt: Drei Menschen liegen auf dem Boden. Sie stellen eine Familie dar - Vater, Mutter und Tochter. Langsam kriecht die Tochter weg. Die Mutter schmiegt sich an den Vater. Beide beginnen hemmungslos zu weinen.
Was aussieht wie ein seltsamer Spuk, nennt sich «Familienstellen». Die Menschen, die sich im alten Schulhaus versammelt hab...
Samstagnachmittag im alten Schulhaus von Uster ZH. Zehn Personen sitzen im Halbkreis. Gebannt schauen sie auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielt: Drei Menschen liegen auf dem Boden. Sie stellen eine Familie dar - Vater, Mutter und Tochter. Langsam kriecht die Tochter weg. Die Mutter schmiegt sich an den Vater. Beide beginnen hemmungslos zu weinen.
Was aussieht wie ein seltsamer Spuk, nennt sich «Familienstellen». Die Menschen, die sich im alten Schulhaus versammelt haben, erhoffen sich dadurch die Lösung eines drängenden Problems. Geleitet wird die Veranstaltung von Verena Wetzel, Inhaberin einer Gesundheitspraxis in Uster.
Und so funktionierts: Jeder Teilnehmer sucht aus der Runde zwei Personen aus, die seine Eltern darstellen. Später kommen Stellvertreter für weitere Verwandte dazu - Geschwister, Onkel, Grossmütter. Die drei Menschen, die auf dem Boden liegen, stellen die Familie einer Frau dar, die ins alte Schulhaus gekommen ist, um den Selbstmord ihres Vaters zu verarbeiten. Das Verhalten der Stellvertreter liefert der Therapeutin Hinweise für die Lösung des Problems.
Oft gehts dabei dramatisch zu. Immer wieder brechen Teilnehmer in Tränen aus. Manche spüren kalte oder warme Schauder. Laut Bert Hellinger, dem in Deutschland lebenden Guru der Familienstellerszene, empfinden die Teilnehmer solche heftigen Gefühle, weil sie mit einem «wissenden Feld» verbunden sind.
Alle lebenden und toten Familienangehörigen sind angeblich an dieses «wissende Feld» angeschlossen. Auf telepathischem Weg empfangen die Stellvertreter dadurch Informationen über Menschen, denen sie nie begegnet sind.
Laut Bert Hellinger sind tragische Ereignisse, in die unsere Ahnen verwickelt waren, der Grund für die meisten Probleme, an denen wir leiden. Deshalb müssen die Teilnehmer vor dem Familienstellen die Geschichte der eigenen Familie erforschen. Alles, was vom normalen Lebenslauf abweicht - eine mit 39 Jahren verstorbene Grossmutter, ein Onkel, der sich umgebracht hat -, ist für die Therapeutin interessant.
Der Fall der Frau, deren Vater sich umgebracht hat, ist bald erledigt. Verena Wetzel erklärt der Frau: «Dein Vater musste es tun, weil dein Grossvater seine Familie verlassen hatte.» Es bleibt keine Zeit, um über diese Deutung zu sprechen. Die Zeit drängt: In höchstens zwei Stunden muss jedes Problem gelöst sein. Dann ist der Nächste dran.
«Wer sich vor den Eltern verneigt, ist frei»
Nicht nur Selbstmorde und Scheidungen sollen sich laut Hellinger fatal auswirken, sondern auch die Missachtung der familiären Rangordnung. Hellingers Hierarchie ist traditionell: Der Mann steht über der Frau. Und jüngere Geschwister sind den älteren untergeordnet. Wer sich nicht daran hält, muss büssen.
Deshalb fordert Verena Wetzel die Teilnehmer des Familienstellens immer wieder auf, sich vor ihren Eltern zu verneigen. In einem seiner zahlreichen Bücher schreibt Hellinger: «Wer sich vor den Eltern verneigt, ist frei.» Auch Kinder, die von ihren Eltern sexuell missbraucht wurden, sollen das tun. Ihnen empfiehlt Hellinger, zu sagen: «Papa, ich habe es gern für dich gemacht.»
Verena Wetzel erklärt: «Wir müssen lernen, mit unseren Eltern in Frieden zu leben.» Eine junge Frau in zerrissenen Jeans hat sichtlich Mühe mit dieser Idee. Sie ist gekommen, weil sie Streit mit ihrer Mutter hat. «Sag deinen Eltern danke», fordert die Therapeutin. Widerwillig erfüllt die junge Frau den Befehl. Damit ist die Therapie zu Ende.
In den letzten Jahren hat das Familienstellen an Popularität zugelegt. In der Schweiz gibt es rund 300 Anbieter. Doch Psychotherapeuten warnen vor Hellingers Methode. «Das Familienstellen ist eine Katastrophe für die Persönlichkeit», sagt die Basler Psychoanalytikerin Ursula Walter. «Die Teilnehmer werden entmündigt. Die autoritäre Methode schwächt ihre Urteilskraft, und sie werden abhängig von einem neuen System.»
Raimund Dörr, Präsident des Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Verbands (SPV), kritisiert: «Die Familienaufstellung ist gar keine Psychotherapie. Sie wird aber als solche verkauft.» Bert Hellingers Technik sei, so Dörr, nicht wissenschaftlich fundiert.
Mit der Idee, dass primär das Verhalten unserer Ahnen für unsere Probleme verantwortlich sei, kann der SPV-Präsident nichts anfangen. Und er findet, das Familienstellen gehe zu schnell. «Probleme in der Familie beginnen in der Kindheit», sagt Raimund Dörr. «Um sie gründlich aufzuarbeiten, braucht es mehr Zeit.»
Die Blitztherapie könne gefährlich sein, warnt Dörr: «Der Therapeut lädt die Klienten an ein Wochenende ein und lässt sie dann hängen. Einige Menschen haben nachher massive Probleme.» Die müsse er in seiner Praxis dann wieder aufpäppeln. «Wenn der Therapeut einer Klientin erzählt, sie sei als Kind missbraucht worden, muss sie alleine damit fertig werden. Solche Aussagen können einen Menschen zur Verzweiflung bringen.»
Bei der Beratungsstelle Infosekta rufen immer wieder Ratsuchende an, deren Partnerschaft nach einer Familienaufstellung in die Brüche gegangen ist. «In diesen Fällen zwang der Therapeut den Teilnehmern seine Sicht auf», sagt Infosekta-Geschäftsleiterin Susanne Schaaf. «Wenn der Partner eine andere Meinung hatte, gab es keine Chance für eine Verständigung.»
Georges A. Porret, Familientherapeut in Aeugst ZH und Hellinger-Freund, verteidigt das Familienstellen: «Es kommt bei jeder Therapieform vor, dass Beziehungen zerfallen. Wenn sich jemand weiterentwickelt, gibt es Probleme in der Partnerschaft.»
Brustkrebs: «Sühne für Unrecht an einem Mann»
Porret wehrt sich auch gegen die Kritiker, die finden, das Familienstellen gehe zu schnell. «Es kann durchaus sein, dass ein Problem auch einmal sehr schnell gelöst wird», meint er. «Wenn ein Teilnehmer nach einer Familienaufstellung eine weitere Beratung braucht, stehe ich dafür zur Verfügung», verspricht Porret. Zudem sei auch die Psychotherapie nicht wissenschaftlich, meint er.
Therapeuten preisen das Familienstellen nicht nur als Behandlungsmethode für Beziehungsprobleme, sondern auch als Heilmittel für Krankheiten aller Art. Auch körperliche Beschwerden sind für Bert Hellinger die Folge von Verletzungen der familiären Rangordnung.
Brustkrebs sei «manchmal Sühne für Unrecht, das einem Mann angetan wurde», schreibt Bert Hellinger in seinem Buch «Ordnungen der Liebe». Und Rückenschmerzen entstehen laut Hellinger «häufig durch die Weigerung, sich tief vor der Mutter oder dem Vater zu verneigen».
Ärzte schütteln den Kopf. «Solche Theorien erinnern mich an das finsterste Mittelalter», sagt der Winterthurer Krebsspezialist Christian Marti. Und Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser sagt: «Die seelische und körperliche Widerstandskraft ist einer der wichtigsten Punkte für die Genesung. Die Schuldfrage wirkt da völlig kontraproduktiv. Menschen, die sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen, werden viel schneller gesund.»
Familientherapie statt Familienstellen
Eine Familientherapie dauert zwischen einem Monat und einem Jahr. Doch so können Betroffene eine Lösung ihrer Probleme finden. Familienberatungsstellen und Psychotherapeuten bieten Familientherapien an. Adressen von Therapeuten vermitteln die psychologischen Fachverbände FSP (Telefon 031 388 88 00) und SPV (Telefon 043 268 93 75).
Empfehlenswert ist eine Therapie, die neben Gesprächen auch spielerische Teile umfasst - beispielsweise Elemente aus der Verhaltenstherapie oder dem Psychodrama (Rollenspiel). Manche Familientherapeuten arbeiten auch mit der Familienskulptur. Diese Technik funktioniert ähnlich wie das Familienstellen, wird aber als spielerisches, in die Therapie eingebettetes Element eingesetzt.
Buchtipp: Michael Wirsching, Paar- und Familientherapie. Verlag C. H. Beck, München 2005, Fr. 14.60
Der Vater hat sich umgebracht? - Die Therapeutin behauptet: «Er musste es tun, weil dein Grossvater seine Familie verlassen hatte.»
Von den Eltern sexuell missbraucht? - Der Therapeut empfiehlt den Kindern zu sagen: «Papa, ich habe es gern für dich gemacht.»
Streit mit der Mutter? - Die Therapeutin fordert von der Tochter: «Sag deinen Eltern danke!»
«Die Familiensteller lassen die Betroffenen hängen»
Raimund Dörr, Psychotherapeut und Kritiker des Familienstellens
«Eine wahre Katastrophe»
Teilnehmer berichten von ihren Erfahrungen
Julia Rodriguez, 35, Zürich:
«Vor zwei Jahren hatte ich ein Problem, das ich mit dem Verstand nicht lösen konnte. Ich wollte Verhaltensmuster in der Familie anschauen. Bekannte rieten mir, zum Familienstellen zu gehen. Ich war zuerst skeptisch, fand es aber eindrücklich. Ich musste plötzlich weinen und fror, wenn ich als Stellvertreterin aufgestellt wurde. Das Familienstellen hat mir viel gebracht. In meiner Familie hat sich einiges gelöst und positiv verändert.»
Susanna Holenweger, 50, Bellikon:
«Hellingers reaktionäres Gedankengut gefällt mir nicht. Das Familienstellen, bei dem ich mitmachte, war eine wahre Katastrophe. Einige Teilnehmer gerieten in eine psychische Krise. Sie sagten nachher, es gehe ihnen noch schlechter als zuvor. Mir ging es nach einem Seminar auch so. Ich erhoffte mir vom Familienstellen eine Orientierungshilfe für meine berufliche Zukunft. Der Therapeut war aber nicht in der Lage, den Leuten zu helfen.»
Regula Oettli, 57, St. Gallen:
«Ich habe vor Jahren bei einem Seminar mitgemacht. Dabei hatte ich intensive Empfindungen. Das Thema, das mich beschäftigte, war die Lebensfreude. Dazu habe ich wenig Neues erfahren. Ob das Familienstellen etwas bringt, hängt stark vom Therapeuten ab. Einige Versöhnungsrituale schienen mir forciert oder unpassend. Ich habe einige Bücher von Bert Hellinger gelesen. Seine Theorie finde ich dogmatisch. Sein Eltern- und Frauenbild ist äusserst rückständig.»
Erich Reichle, 61, Fällanden:
«Ich habe gesehen, dass das Familienstellen funktioniert. Gerne wäre ich dahinter gekommen, wie es funktioniert. Beim Familienstellen wollte ich das Verhältnis zu meinen Eltern klären. Ich habe dabei seltsame Kräfte gespürt. Ich fühlte mich innerlich dazu gedrängt, gewisse Sachen zu tun oder zu sagen. Der Therapeut übte keinen Zwang auf die Teilnehmer aus. Sonst wäre ich schnell ausgestiegen.»
Haben Sie schon einmal bei einem Familienstellen mitgemacht? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen:
Redaktion Gesundheitstipp, «Familienstellen», Postfach 277, 8024 Zürich oder Redaktion@gesundheitstipp.ch