Flucht in den Tod
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MCS-Kranke reagieren auf kleinste Spuren von Alltags-giften. Jetzt hat sich eine Frau umgebracht, die aus ihrer Wohnung flüchten musste: Farben und Duftstoffe lösten starke Beschwerden aus. Nach anfänglichem Zögern stellen die Behörden nun ein Haus zurVerfügung.
Inhalt
Gesundheitstipp 3/2003
19.03.2003
Thomas Grether - thgrether@pulstipp.ch
Christine Schneider verliess am 22. November 2002 das Haus ihrer Eltern. Es war 8 Uhr morgens. Sie wolle zum Arzt, sagte sie den Eltern. Doch niemand wusste, wohin der Weg der 43-Jährigen an diesem Tag wirklich führen würde. Auch ihr Vater nicht, der sie mit dem Auto zum Bahnhof fuhr.
Dort, im hektischen Morgenverkehr, eilte es. «Ich musste meine Tochter aus dem Auto heraus verabschieden», sagt er. Unterwegs mit dem Zug nach Zürich, rief Christine Schneider per Handy ihre Mu...
Christine Schneider verliess am 22. November 2002 das Haus ihrer Eltern. Es war 8 Uhr morgens. Sie wolle zum Arzt, sagte sie den Eltern. Doch niemand wusste, wohin der Weg der 43-Jährigen an diesem Tag wirklich führen würde. Auch ihr Vater nicht, der sie mit dem Auto zum Bahnhof fuhr.
Dort, im hektischen Morgenverkehr, eilte es. «Ich musste meine Tochter aus dem Auto heraus verabschieden», sagt er. Unterwegs mit dem Zug nach Zürich, rief Christine Schneider per Handy ihre Mutter an. Sie erkundigte sich, ob ihr Vater gut zu Hause angekommen sei. Zu diesem Zeitpunkt stand der Entschluss der Sozialarbeiterin, sich das Leben zu nehmen, bereits fest.
Christine Schneider litt an Multipler Chemikalien-Sensitivität (MCS): Dies bestätigt John van Limburg Stirum, einer der Ärzte, die Schneider zuletzt betreut haben. MCS-Patienten reagieren extrem empfindlich auf Parfüm, Haarspray, vor allem aber auf Pestizide und Lösungsmittel. Schon kleinste Spuren dieser Schadstoffe lösen bei ihnen verschiedenste Beschwerden aus wie Atemnot, Herzrhythmus-Störungen, Erschöpfung und Schwindel.
Weil solche Alltagsgifte praktisch überall lauern, sind schwer MCS-Kranke ständig auf der Flucht - auch Christine Schneider war es. Im Abschiedsbrief, den sie ihrer Familie hinterliess, schrieb sie: «Mein Leben ist zu einem Überlebenskampf geworden. Der Leidensdruck wird immer grösser. Ich muss allen Chemikalien ausweichen. Was bis vor kurzem noch ein Spiessrutenlaufen war, wird jetzt zu einer absoluten Vermeidungsstrategie. Um zu überleben, muss ich mich wie eine Vertriebene verhalten.»
Vertrieben auch aus der eigenen Wohnung. Die Wohnsituation vieler MCS-Kranker ist prekär. Häufig ist die Luft belastet, da Verwaltungen nach einem Mieterwechsel die Wände streichen oder Parkettböden versiegeln. Diese geben noch Jahre später Schadstoffe an die Luft ab. MCS-Patienten reagieren mit immer stärkeren Beschwerden.
Christine Schneider hatte kurz vor ihrem Suizid drei Wohnungen gleichzeitig. In einer Notiz für ihren Arzt schrieb sie: «Es gibt Räume, da kann ich mich nicht mehr aufhalten. Habe nun die zweite Wohnung gemietet, und noch eine, und es ist in allen nicht zum Leben. Bei Nachbarn kann ich diese Tage sein.»
Letzter Zufluchtsort für die ausgebildete Sozialarbeiterin Christine Schneider waren ihre Eltern. «Ich vertrage nichts mehr, weiss nicht, wo ich schlafen soll. Schweissausbrüche, Hitze und Kälte, Atemnot und Erschöpfung. Ich bin mutlos und verzweifelt», schrieb sie.
Die Eltern räumten ein Zimmer, um die Tochter zu Hause aufzunehmen - erfolglos. Schliesslich schlief Schneider dort, wo Keramikkacheln an den Wänden nur wenige Schadstoffe freisetzen - in der elterlichen Küche. Diese Nacht auf den 22. 11. 2002 sollte die letzte sein in ihrem Leben. Nachdem die 43-Jährige in Zürich angekommen war, sprang sie von einem Hochhaus in den Tod.
Dass bald etwas Schreckliches passieren könnte, befürchtete Therese Pfister vom Arbeitskreis MCS bereits vor einem Jahr. «Die Zeit drängt. Uns sterben demnächst Leute weg, weil sie kein geeignetes Zuhause finden», warnte sie im Puls-Tipp (12/01). Schon damals sprachen MCS-Patienten wie Ruth Meier (Name geändert) aus Kirchdorf BE von Suizid: Die 44-Jährige war in drei Monaten viermal gezügelt. Auch sie wohnte danach provisorisch bei ihren Eltern. Und MCS-Patientin Edith Bolliger, 54, aus Bern muss auf dem Balkon oder im ungeheizten Wohnwagen schlafen, auch im Winter.
Rund 100 MCS-Kranke sind beim Arbeitskreis MCS und bei der MCS-Liga Schweiz angemeldet. Die vor knapp zwei Jahren gegründeten Selbsthilfegruppen kämpfen um Gehör bei Behörden und sozialen Institutionen. Allen voran Christian Schifferle. Der 48-jährige Zürcher, selbst schwer MCS-krank, lebt in einem Wohnwagen auf der Lenzerheide. Von dort aus leitet er die MCS-Liga Schweiz.
Noch am 27. Oktober 2002 versuchte er, Christine Schneider und fünf weitere schwer MCS-kranke Menschen in schadstoffarmen Wohnungen unterzubringen. Er sandte einen Hilferuf an die Chefetage der zuständigen Zürcher Behörden. «Helfen Sie uns. Menschen mit MCS sind dringend auf baubiologischen Wohnraum angewiesen», schrieb er.
Antwort bekam er drei Monate später. Laut Schifferle signalisierten die Behörden erstmals Gesprächsbereitschaft. Arno Roggo, Chef der Liegenschaften-Abteilung der Stadt Zürich, bot den MCS-Kranken ein Einfamilienhaus an. Darin könnten drei bis fünf MCS-Patienten wohnen. Einzugstermin ist der 1. April. «Ein Wohnprojekt für Umweltkranke ist nötig», sagte Roggo dem Puls-Tipp.
Doch so einfach ist es nicht. Niemand weiss, ob dieses kurzfristig bereitgestellte Haus nicht doch Giftstoffe abgibt. Schifferle will deshalb das Haus zuerst provisorisch bewohnen. Hält sich die bauökologische Sanierung im Rahmen, soll laut Liegenschaften-Chef Roggo die Stadt für die Kosten aufkommen.
Eine andere Möglichkeit bietet die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich. «In zwei Jahren ist Baubeginn einer neuen Liegenschaft. Wir prüfen, ob man dort MCS-Wohnungen integrieren könnte», sagt deren Leiter Peter Schmid. Doch er relativiert sofort wieder. Es habe noch andere Bewerber. «Wer als Genossenschafter reindarf, wird 2004 entschieden.»
Nach Lösungen sucht man auch in Bern. Dort hat der städtische Gemeinderat kürzlich veranlasst, freien Wohnraum für MCS-Kranke abzuklären. Dies aufgrund einer Petition der MCS-Liga, die von namhaften Ärzten wie etwa dem Allergologen Arthur Helbling vom Berner Inselspital unterstützt wird. Helbling sagt, unter seinen Patienten habe es rund 40 MCS-Kranke. Und: «In der «ganzen Schweiz gibt es wahrscheinlich mehrere hundert Betroffene. Für Schwerkranke sollte möglichst bald schadstoffarmer Wohnraum zur Verfügung stehen.»
Doch die einflussreichen Stellen beim Bund unterstützen MCS-Kranke kaum. Just am Todestag von Christine Schneider schrieb die damalige Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss in einer Antwort an die MCS-Liga: «Solange noch zu wenig gesicherte Daten über dieses Krankheitsbild vorliegen, dürfte auch der Ruf nach umweltmedizinischen Klinikabteilungen und baubiologischem Wohnraum kaum auf fruchtbaren Boden fallen.»
Bis die Krankheit im Detail erforscht ist, können noch Jahre vergehen. Doch für Menschen mit MCS kann es gar nicht schnell genug gehen, so stark sind ihre Beschwerden. In ihrem Abschiedsbrief schrieb Christine Schneider: «Der Geruch sticht mich in der Nase so sehr und schlägt mir auf die Atmungsorgane. Oft habe ich fast Zusammenbrüche.»
Abschiedsbrief
Christine Schneider sprang aus Verzweiflung über ihre Krankheit in den Tod. Ein Auszug aus dem Brief an ihre Eltern:
«Mein Leben ist zu einem Überlebenskampf geworden. Der Leidensdruck wird immer grösser. Das Leiden dauert nun schon so viele Jahre; lange wusste ich nicht, was es ist. Erschöpfung, Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Ängste begleiteten mich seit Jahren.
Ich muss allen Chemikalien ausweichen. Was bis vor kurzem noch ein Spiessrutenlaufen war, wird jetzt zu einer absoluten Vermeidungsstrategie. Um zu überleben, muss ich mich wie eine Vertriebene verhalten.
Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln sind mir ein Greuel. Oft habe ich fast Zusammenbrüche. In meinem Studio habe ich zusehends Atembeschwerden. Der Geruch sticht mich in der Nase so sehr und schlägt mir auf die Atmungsorgane.»
MCS - wenn Parfüm in der Nase sticht
Patienten mit Multipler Chemikalien-Sensitivität (MCS) reagieren auf viele Stoffe mit gesundheitlichen Beschwerden - zum Beispiel auf Waschmittel, Parfüm, Pestizide oder Formaldehyd. Doch wie die Krankheit im Körper abläuft, ist ungeklärt. Es handelt sich auch nicht um eine Allergie. Altbewährte Therapien und Medikamente versagen. Wichtigste Massnahme: Schadstoffe vermeiden. Und auch Wohnungen sind vielfach belastet. MCS-Kranke schlafen deshalb oft auf dem Balkon oder gar im Wald (siehe Puls-Tipp 12/01).
Informationen für Betroffene und alle, die helfen möchten
Wer Fragen zum Thema MCS hat, Selbsthilfegruppen finanziell unterstützen oder geeigneten Wohnraum zur Verfügung stellen will, wendet sich an
- MCS-Liga Schweiz - Postfach 169, 7078 Lenzerheide - Tel. 081 356 37 39, E-Mail: info@ mcs-liga.ch; www.mcs-liga.ch
- Arbeitskreis-MCS Schweiz - ruelle du mont 22, 1926 Fully - Tel. 022 367 10 32 und Tel. 033 722 49 45; E-Mail: thepfi@gmx.ch
- Lese-Tipps
Werner Maschewsky: «Handbuch Chemikalien-Unverträglichkeit MCS», Medi Verlagsgesellschaft, Hamburg, Fr. 27.35
Erich Schöndorf: «Feine Würze Dioxin», Bad-Vilbeler-Verlag, Fr. 37.-