Hormone im Blut sind lebenswichtig. Sie steuern alle wichtigen Funktionen des menschlichen Körpers – vom Kreislauf bis zur Fruchtbarkeit.
Doch es gibt auch viele Chemikalien, die im Blut wie Hormone wirken. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind es bis zu 800. Nur wenige dieser hormonaktiven Stoffe sind bisher genauer untersucht.
Die Konsumenten nehmen die Stoffe übers Essen, die Haut oder die Luft auf. Sie stecken als Weichmacher in Kunststoffprodukten, als Pestizidrückstände im Salat, als Konservierungsmittel in Seifen oder Deos.
Hormonaktive Stoffe wirken schon in kleinsten Mengen. Laut dem renommierten Londoner Toxikologen Andreas Kortenkamp gibt es keine Grenzwerte, bis zu denen die Belastung unproblematisch ist. Deshalb solle man die Aufnahme solcher Stoffe vermeiden.
160 Milliarden Franken Kosten pro Jahr
Neue Studien eines internationalen Forscherteams zeigen, was hormonaktive Stoffe anrichten können. Allein in der EU lösen sie Kosten von 160 Milliarden Franken pro Jahr aus – wegen medizinischer Behandlungen und Arbeitsausfälle. Einige Beispiele:
- Pestizide: Unkrautvernichter, die Organo-Phosphate oder den Stoff PBDE enthalten, sorgen für Kosten von über 100 Milliarden Franken pro Jahr. Sie belasten vor allem ungeborene Kinder im Mutterleib und führen zu rund 60 000 Fällen von geistiger Behinderung.
- Phthalate: Diese Weichmacher stecken etwa in Kunststoffen, Spielsachen, Regenjacken oder Hausstaub. Sie verursachen Kosten von 16 Milliarden Franken pro Jahr. Sie lösen Übergewicht und Folgekrankheiten wie Diabetes aus.
- Bisphenol A: Der Weichmacher steckt in Getränkedosen, Babyflaschen und Kassenzetteln. Er beeinflusst Föten im Mutterleib. Kosten: jährlich 1,6 Milliarden Franken.
Bundesamt kritisiert, tut aber selbst nichts
Das Bundesamt für Gesundheit kritisiert, dass in den Studien die Beweise für die hormonelle Wirkung der meisten verdächtigten Chemikalien fehlen. Zudem hätten die Autoren nicht bedacht, dass bei der Entstehung der Krankheiten auch die Ernährung und das Rauchen eine Rolle spielen.
Zur Aufklärung trägt der Bund aber selbst wenig bei. Er führt keine regelmässigen Messungen über die chemische Belastung der Bevölkerung durch. Für Klarheit könnte eine grössere Studie sorgen. Der Sprecher des Bundesamts für Gesundheit sagt jedoch, diese sei «aufwendig und teuer».
Verbände wie Greenpeace, WWF, Pro Natura und Bird Life liessen hingegen im letzten Jahr die Folgen des Pestizideinsatzes in der Schweiz berechnen. Sie kamen auf Gesundheitskosten von 25 bis 75 Millionen Franken pro Jahr. Laut Marcel Liner von Pro Natura konnten die Verbände den Kostenanteil der hormonaktiven Stoffe jedoch nicht ermitteln. Grund: Das Bundesamt für Landwirtschaft hält die Verkaufsmengen der einzelnen Pestizidprodukte geheim.
Andere Länder tun mehr. Die Regierungen von Schweden, Dänemark und Frankreich haben Aktionspläne, um die Belastung durch hormonaktive Stoffe zu verringern. Die dänische Regierung setzte ein EU-Verbot von gefährlichen Konservierungsmitteln durch (saldo 3/15).
Das Bundesamt für Gesundheit teilt auf Anfrage mit, an einem Konzept zur Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren hormonaktiver Stoffe zu arbeiten. Nur: Bei konkreten Massnahmen treten die Behörden auf die Bremse:
- Keine Messungen: Der Bund versprach, bis 2013 zu prüfen, ob er ein «Beobachtungsprogramm» durchführen will. Wegen der «Komplexität des vorgesehenen Projektes» dauert die Prüfung nun bis 2016. Anders in Deutschland, Tschechien, den USA und Kanada: Hier lassen die Regierungen die Konzentrationen bestimmter Chemikalien in Blut, Urin und Körpergewebe von Testpersonen messen. So erfahren sie, wie hoch die Belastung der Bevölkerung ist.
- Risiko Bisphenol A: Der Bund versprach auf einen Vorstoss im Nationalrat hin, bis 2012 einen Bericht zu Bisphenol A vorzulegen. Drei Jahre später sagt das Bundesamt, der Bericht komme noch vor dem Sommer. Man habe eine EU-Studie abgewartet. Anders Frankreich: Seit Anfang 2015 ist die Chemikalie in Lebensmittelverpackungen verboten.
- Triclosan-Verbot: Die antibakterielle Substanz steckt in Produkten wie Zahnpasten, Deos und Waschmitteln (saldo 14/14). Sie steht im Verdacht, Spermien, Leber und Muskeln zu schädigen. Die EU hat den Stoff im November 2014 in Kleidern verboten. Der Bundesrat zog Mitte März nach. Der US-Staat Minnesota hat Triclosan auch in Lebensmitteln und Kosmetika verboten. Der Bundesrat lehnt das ab.
Teure Sanierungen statt Verbot kritischer Stoffe
Der Bund plant, in den nächsten 20 Jahren 100 der total 700 Kläranlagen mit einer zusätzlichen Reinigungsstufe auszurüsten. Sie soll 80 Prozent der hormonaktiven Stoffe aus den Abwässern herausfiltern. Baukosten: total 1,2 Milliarden Franken. Die jährlichen Betriebskosten machen 130 Millionen Franken aus. Der Basler Schadstoff-experte Martin Forter von den Ärzten für Umweltschutz kritisiert: «Gesünder und billiger wäre es, heikle Chemikalien erst gar nicht ins Wasser kommen zu lassen.» Er wirft den Behörden vor, «den Schutz der Konsumenten aus Rücksicht auf die Industrie zu vernachlässigen».
Science Industries, der Lobbyverband der Chemieindustrie, lehnt spezielle Gesetze für hormonaktive Stoffe und «Schweizer Alleingänge» ab. Der Staat solle sichere Grenzwerte für diese Chemikalien festlegen, statt sie zu verbieten.
Anders gesagt: Die Hersteller wollen auf das Geschäft mit hormonaktiven Stoffen nicht verzichten. Die Risiken tragen die Konsumenten.
Tipps: So reduzieren Sie Ihre Belastung
- Bioprodukte enthalten keine oder oder nur geringe Pestizidrückstände.
- Waschen und schälen Sie Gemüse und Früchte.
- Die Umweltschutzorganisation PAN Europe rät, gewisse konventionell produzierte Lebensmittel zu meiden, da sie oft Rückstände von mehreren Pestiziden aufweisen. Dazu gehören etwa Kopfsalat, Trauben, Äpfel, Birnen, Tomaten, Erdbeeren, Gurken und Peperoni.
- Viele Schädlingsbekämpfungsmittel für Haus und Garten enthalten hormonell wirksame Stoffe wie Deltamethrin oder Cypermethrin. Nicht chemische Verfahren sind oft umweltfreundlicher.